FREAKS OUT
Zirkus-Artisten mit übernatürlichen Kräften mitten im Italien des zweiten Weltkriegs. Dass diese wahnwitzige Mischung nicht katastrophal schief geht, liegt vor allem am Mut zur Emphase, die Regisseur Gabriele Mainetti in “Freaks Out” beweist. Auf den Spuren von Tod Brownings „Freaks“ und „Nightmare Alley“ (gerade auch von Guillermo del Toro neu verfilmt) stellt er uns eine witzige Truppe Außenseiter vor, die die perfekten Schmalspur-Superhelden bei Marvel wären - wenn sie denn Englisch und nicht Italienisch reden würden: ein magnetischer Clown, ein Albino-Insekten-Beschwörer, ein starker Wookiee-Haarmensch und ein elektrisch geladenes Mädchen.
Stilistisch bewegt sich „Freaks Out“ dann aber eher im ironischen Übertreibungs-Bereich des DC-Universums. Vor allem die elektrische Mathilde versucht in der angenehm wirren Geschichte alles um ihren Zirkusdirektor und Ersatzvater Israel vor den Abtransport durch die Nazis zu bewahren. Wohin der Zug führt, können sich die Zuseher in Venedig denken. Spätestens hier beginnt der gefährlichste Bereich der zeitgeschichtlichen Bearbeitung - „Das Leben ist schön“ will “Freaks Out” aber sowieso nicht sein. Der Film beschränkt sich auf recht klischeehafte Nazis, die an Tarantino ohne Christoph Waltz erinnern. Dafür bietet Mainetti immerhin Franz Rogowski als Direktor des „Zirkus Berlin“ auf. Der glühende Hitler-Verehrer sieht im Ätherrausch die Zukunft samt NS-Untergang, Nürnberg und Mobiltelefonen voraus, hat 6 Finger an jeder Hand und träumt davon, dem Führer die Freaks als kriegsentscheidende Waffe zu liefern. Mit einem Hakenkreuz-Klavier und der längsten Pistole der Filmgeschichte ist er ein Gegenspieler, der irgendwo zwischen missglückt und herrlich überdreht changiert.
Insgesamt überfällt Gabriele Mainetti die Zuschauer in „Freaks Out“ mit einer opulent-knalligen Effekt- und Ausstattungs-Maschinerie, die ebenso übertrieben wie überwältigend ist. Wer bei dieser Blut- & Action-lastigen Farce auf die Weltkriegsgeschichte kein moralisches Bauchweh bekommt, hat an den übervollen 141 Filmminuten durchaus viel Spaß. Im ansonsten hochseriös-ernsten und oft auch allzu trockenen Wettbewerb von Venedig ist der Film jedenfalls ein knallbunter Außenseiter - ganz wie seine Protagonisten.
THE BLIND MAN WHO DID NOT WANT TO SEE TITANIC
Er habe aufgehört Filme zu schauen, als er Kurt Russell nicht mehr vom Husky unterscheiden konnte, meint der blind gewordene Rollstuhlfahrer Jaakko lakonisch zu seiner Liebschaft. Er hat sie im Internet kennengelernt und bisher kennt er nur ihre Stimme. Doch als die ebenfalls kranke Sirpa eine schlechte Diagnose bekommt, macht er sich spontan auf in ihren 1000 Kilometer entfernten Ort am anderen Ende von Finnland. Keine leichte Aufgabe für einen Blinden im Rollstuhl, vor allem als er an zwei Kleinkriminelle gerät, die keine Skrupel haben seine Lage auszunutzen.
Teemu Nikki hat mit "The Blind Man Who did not want to see Titanic" einen Film für seinen Multiple-Sklerose-kranken Freund Petri Poikolainen geschrieben, der ein experimenteller Thriller und kein Mitleidsdrama ist. Im Bild ist 82 Minuten lang fast nur Petris Kopf scharf zu sehen, alles andere verschwimmt in der Unschärfe. Zusammen mit dem Ton erzeugt der Film so eine unglaubliche Subjektivität, die weitaus verkopfter und mühsamer klingt als sie tatsächlich ist. Das liegt vor allem auch am trockenen Humor, den die finnische Hauptfigur - und ihr großartiger Darsteller - an den Tag legen. Jaakko ist ein Filmnerd, der sich als er noch sehen konnte, aus Prinzip weigerte „Titanic“ anzuschauen. Seine Referenzen auf John Carpenter oder die Coen Brothers wurden vom Filmfestival-Publikum am Lido in der Schiene "Orizzonti Extra" mit viel Lachen aufgenommen. Der bitterböse Humor geht dabei erfreulich treffsicher auf Kosten der Sehenden und Gehenden. Nun findet sich Jaakko als blinder Cinephiler selbst in einem Crime Movie wieder, das es in sich hat.