Sicherlich kann man „The Power of the Dog“ auf dem Fernseher schauen. Oder auch auf einem Computerbildschirm, wenn der Film Ende des Jahres erstmal beim produzierenden Streamingdienst Netflix erschienen ist. Doch nachdem sich der Vorhang vor der Leinwand im Premierensaal Sala Grande gehoben hat, ist nach wenigen Momenten klar, dass das Westerndrama von Regisseurin Jane Campion („Das Piano“) in Venedig genau dort zu sehen ist, wofür es eigentlich gemacht ist: im Kino.
Vor allem die weite, erhabene, westernwilde Berglandschaft hat eine Wucht, die die Adaption von Thomas Savages 1967 erschienenen Roman auch genau damit einfängt. Es ist eine Landschaft, in der eine Zeitlosigkeit und ein Gefühl von Ewigkeit ruht. Im Wettbewerbsbeitrag aber ist es das Jahr 1925, irgendwo im rauen Nirgendwo in Montana, wo mit der Ranch ein winziges Stück Zivilisation der Wildnis trotzt. Dort leben die ungleichen Brüder Phil und George seit vielen Jahren gemeinsam auf einer Farm.
Benedict Cumberbatch verkörpert eindrucksvoll den eigentlich belesenen Cowboy Phil als harten Brocken und rauen Kerl, der die Schwächen anderer rücksichtslos ausnutzt. George, gespielt von Jesse Plemons, hingegen ist sensibler, einfühlsamer und gibt sich immer im feinen Anzug geschäftsmännisch distinguiert. Als er eines Tages die Witwe Rose (Kirsten Dunst) heiratet, die auch ihren intelligenten, aber zartbesaiteten Sohn mit in die Ehe bringt, macht Phil ihr in einem Kleinkrieg das Ranchleben zur Hölle.
Cowboy-Männlichkeit und Sexualität
Den Grund für seinen Sadismus zeigt Campion in kurzen Szenen und zurückhaltenden Andeutungen, wenn seine harte Fassade kurz aufgebrochen wird: Phil ist schwul und seine rücksichtslose Härte rührt aus an einem verinnerlichten Hass auf sich und seine Sexualität – verstärkt durch den Verlust des wahrscheinlich einzigen Mannes, mit dem er sich im Geheimen jemals ausleben konnte. Während „The Power of the Dog“ bildstark und mit glazialer Ruhe die schwelenden Konflikte in der Wildnis einfängt, bewegt er sich durch dasselbe Spannungsfeld aus Cowboy-Männlichkeit und Homosexualität wie ein anderer Film, der einst in Venedig den Goldenen Löwen gewann: Ang Lees „Brokeback Mountain“.
Tragikomische Geschichte
Ebenfalls opulent, wenn auch auf eine ganz andere Weise, war Paolo Sorrentinos Wettbewerbsfilm „È stata la mano di Dio“. Für den italienischen Regisseur, der eigenwillige wie einnehmende Werke wie „La Grande Bellezza“ gedreht hat, war dabei offenbar einmal mehr Meisterregisseur Federico Fellini eine Inspirationsquelle. Wie einst Fellini in „Amarcord“ schweift auch Sorrentino hier zurück in seine Jugend. Schauplatz ist Neapel in den 80er Jahren, als Gerüchte kursieren, dass Fußballgott Maradona zum SSC Neapel wechseln würde – was er dann auch tut. Dort spielt sich die Familien- und Initiationsgeschichte aus Sicht des jungen Fabietto ab, der mit einem Schicksalsschlag konfrontiert wird, als plötzlich seine Eltern bei einem Unfall sterben.
„Die Realität ist schlimm. Ich will Filmregisseur werden“, sagt Fabietto beim Aufbruch in sein Leben. Jetzt hat Sorrentino aus genau dieser vergangenen Realität seiner Jugend – er verlor seine Eltern bei einem ähnlichen Unglück – diesen persönlichen Stoff geschöpft. Eine wirkliche Handlung entwickelt „È stata la mano di Dio“ nicht. Vielmehr wird diese tragikomische Geschichte über das Heranwachsen von berückenden visuellen Einfällen und einem Defilée ganz normal exzentrischer Neapolitaner getragen, die die Meisterschaft des offenkundigen Vorbilds Fellini dabei aber kaum ganz erreichen kann.
Sascha Rettig