Auf den Straßen von Mexiko-Stadt gibt es Schlachten mit der Polizei, in den Reichenvierteln will man von der eskalierenden Aggression nichts wissen – wie auf der Hochzeit von Marianne und ihrem Mann. Aber dann holt das Chaos die feine Gesellschaft ein. Was hat es mit der „Neuen Ordnung“ im Titel auf sich?
MICHEL FRANCO: Ich wollte, dass der Film nicht nur eine mexikanische Geschichte ist. Insofern hat der Titel Sinn. Er ist auch ein wenig zynisch: Es ist eine neue Ordnung, aber sie ist schlimmer als vorher. Ich bin immer in Sorge um diese Veränderungen, die nicht notwendigerweise zum Besseren führen.
Ihr Film ist eine Dystopie, aber eine realistische. Hoffen Sie, dass viele ZuseherInnen die Verbindung zu ihrer Realität herstellen?
MICHEL FRANCO: Das wäre großartig! Aufrütteln funktioniert nur, wenn es ein großes Publikum gibt. Sonst wäre es nur eine intellektuelle Übung für mich, und das interessiert mich nicht. Was ich im Film zeige, wird, so hoffe ich doch, nie passieren. Aber wenn wir in die jüngere Geschichte von Lateinamerika schauen, hat immer wieder eine Diktatur und das Militär die Macht übernommen und eine Ordnung durchgesetzt. Die Geschichte ist in der näheren Zukunft angesiedelt. In Mexiko ist es noch nie passiert und wird hoffentlich auch nicht passieren. Aber es sollte sich real anfühlen.
Zur Entführung im Film haben Sie ja eine persönliche Erfahrung.
MICHEL FRANCO: Ja, ich wurde als 20-Jähriger entführt. Es war, was man scherzhaft „Express-Kidnapping“ nennt. Aber es war kein Scherz. Ich wurde eine ganze Nacht herumgefahren und dachte, ich werde sterben. Es war sehr eindrücklich. Aber viele Leute, die ich kenne, sind gekidnappt worden. Es ist lächerlich, wenn wir denken, dass es normal ist! Man gewöhnt sich an das Schlimmste und akzeptiert es als normal
Wollten Sie mit ihrem Film provozieren?
MICHEL FRANCO: Oh ja! Wenn ich ins Kino gehe, will ich provoziert und berührt werden. Filme sollten viel mehr sein als Unterhaltung. Einen ernsthaften Film über dieses Thema zu machen und weniger schlimm und weniger hart zum Publikum zu sein, fühlt sich falsch an. Ich würde den Film betrügen. Es muss so sein. Und für mich entsteht die Hoffnung, dass wir nach dem Kinobesuch nachdenken, was wir verändern können. Aber nicht innerhalb der Geschichte.
In der Zukunft, von der Sie erzählen, eskaliert der Klassenkampf von beiden Seiten. Wie haben sie die Perspektiven gewählt?
MICHEL FRANCO: Ich bin Teil der privilegierten Blase. Ich kenne sie gut, aber ich verurteile nicht. Wir sind alle Teil des Problems, und natürlich könnte diese privilegierte Klasse Veränderung herbeiführen. Aber wir machen nichts, um etwas zu verbessern. Und ich müsste blind sein, wenn ich die andere Seite nicht verstehen würde! Dabei wollte ich nicht auf eine heuchlerische Weise einfühlsam sein. Aber wenn ich so leben würde, würde ich auch zu Gewalt als Mittel greifen.
Auch die reichen Leute im Film müssen einen hohen Preis zahlen.
MICHEL FRANCO: Ja, Geld rettet einen nicht. Das ist so wichtig und frustriert mich so in Mexiko. Die Leute wollen sich Sicherheit kaufen. Reiche werden oft von bewaffneten Bodyguards in der Gegend herumgefahren. Aber eines Tages werden diese sich gegen sie stellen. Man kann sich keinen Seelenfrieden kaufen.
Marian Wilhelm