Nach der Cannes-Premiere zu „Toni Erdmann“ im Jahr 2016 schenkte die französische Zeitung Libération der Welt folgende Zuschreibung über Sandra Hüller: „Deutsche Qualität“. Und zwar jene von unzweifelhafter Präzision, von komischer Eigensinnigkeit, verschmitzter Leidenschaft und unnachgiebiger Energie.
Diese preisgekrönte Rolle der überforderten Unternehmensberaterin Ines Conradi in Maren Ades hinreißender, entlarvender Tragikomödie verhalf ihr international zum Durchbruch. Eine eigene Klasse für sich war die Mimin, die bis dato viermal von „Theater heute“ zur Schauspielerin des Jahres geadelt wurde, schon vorher. Durch sie und ihr Talent, in jeder Szene gleich eine ganze Palette an Emotionen zu vermitteln, erhält jede sogenannte Nebenrolle immenses Gewicht.
Das war zuletzt in der klugen, melancholischen Lovestory „Ich bin dein Mensch“ im Kino zu erleben, wo sie als humanoide Mitarbeiterin glänzte. Oder ab 30. Juli in Alice Winocours Weltraumfilm „Proxima – Die Astronautin“. Darin verkörpert Sandra Hüller an der Seite von Eva Green, Lars Eidinger oder Matt Dillon eine psychologische ESA-Patin, die sich um die siebenjährige Tochter einer Astronautin vor deren einjähriger Mission zur ISS kümmert. „Die Figur selbst ist interessant, weil sie so schwer lesbar ist und ihr die Zuschauerinnen und Zuschauer Sachen andichten können“, erzählt Sandra Hüller in Lockdown Nummer zwei am Telefon. Und diese unberechenbare Lesbarkeit ist vielleicht der kleinste gemeinsame Nenner all ihrer Kinorollen. Es bleibt vage. Und deswegen so anziehend.
Über den Reiz geheimnisvoller Figuren und ob sie das bei der Auswahl beachtet, sagt die 43-Jährige: „Ich mache mir keine Gedanken darüber. Aber für mich ist es so, dass es keine eindeutigen Menschen gibt. Das hat sicherlich damit zu tun, dass ich oft von Drehbüchern überrascht werde, in denen Leute alles ganz genau wissen. Auch, wer ihr Gegenüber ist. Damit kann ich wenig anfangen.“ Die deutsch-französische Koproduktion über eine Heldin im männlich dominierten Weltraum-Business und ihre ganz persönliche Mission wurde auf Französisch gedreht.
Das habe ihr großen Spaß gemacht. „Ich hatte kurz davor auf eigene Faust begonnen, Französisch zu lernen, weil ich viel Zeit hatte. Daraufhin kam dann diese Anfrage. Es ist sehr seltsam, wie die Dinge immer so zusammenhängen“, sagt Hüller.
Hat sie selbst einen Bezug zum Weltraum oder wollte sie selbst vielleicht einmal Astronautin werden? „Da muss ich Sie leider enttäuschen“, kontert die in Suhl in der DDR geborene Schauspielerin. Nachsatz: „In der Beschäftigung damit fand ich es total interessant, was da alles zu leisten ist und wie schwierig dieser Beruf ist.“
Ihre Leinwand-Leistungsschau seit 2006 ist beeindruckend, ihr Spiel ergründet Höhen und Tiefen, bleibt aber stets unergründlich. Auf jeden Fall unvergesslich. Als Verkäuferin in der Süßwarenabteilung in „In den Gängen“, als resolut-pragmatische Regisseurin in „Sibyl – Therapie zwecklos“ oder als exzentrische Dokumentarfilmerin in „Finsterworld“. Sie verleiht jeder kleinen Rolle maximale Größe und veredelt jeden Film. „Ich verändere mich ständig, mein Umfeld und die Welt auch. Es ist keine festgefahrene Angelegenheit und das ist auch das Schwierige daran. Aber gleichzeitig ist es das Aufregende an diesem Job: Man muss oder darf sich immer wieder neu aufstellen – je nach Tagesform sieht man das so oder so.“