Normalerweise reicht eine Limousine, um die größten Stars eines Films am roten Teppich in Cannes vorzufahren. Manchmal zwei. Höchstens drei. Regisseur Wes Anderson hat aber wie bei all seinen Filmen auch für seinen Wettbewerbsbeitrag „The French Dispatch“ so viele Stars zusammengetrommelt, dass er damit ein ganzes Festival versorgen könnte – und die sind in einer Premiere bei der Premiere vorm Cannes-Palais alle zusammen in einem gold-weißen Partybus gekommen. Bill Murray saß ganz vorn und war als erster zu sehen. Als der Bus anhielt, stiegen noch ein Dutzend weiterer bekannter Gesichter aus: Neben Anderson waren das unter anderem Owen Wilson, Adrien Brody, Benicio del Toro, Jarvis Cocker und Tilda Swinton. „Das Kino ist nicht weg“, sagt sie am roten Teppich in einem abenteuerlichen Farbmix aus Rot-Pink-Grüngold. „Jeder, der behauptet, Kino sei tot – vergiss es!“ Der größte Hingucker war aber trotzdem wohl Timothée Chalamet in einem sexy Silberanzug.
Dass Léa Seydoux wegen einer Corona-Infektion nicht anreisen konnte, fiel da gar nicht auf – genauso wie die Tatsache, dass in „The French Dispatch“ noch weitere Stars von Christoph Waltz bis Frances McDormand in mehr oder weniger großen Rollen in einzelnen Geschichtchen aufkreuzen. Der Regisseur verfilmt schließlich eine Ausgabe von „The French Dispatch“, einer fiktiven Wochenbeilage in Kansas, die aber von Amerikanern in Frankreich produziert wird. Von Politik bis Kulinarik schweift er durch die Ressorts und inszeniert all das in seiner ganz eigenen exzentrischen Handschrift, die man nach Filmen wie „Grand Budapest Hotel“ oder „The Royal Tenenbaums“ auch hier schon vom ersten Bild an erkennt. Streng kontrolliert und überlegt bis ins allerletzte Detail in jedem einzelnen Bildausschnitt, abgefüllt mit komischen Einfällen und absurden Ideen, die in einem Wechsel aus Schwarz-Weiß, Farbe und Zeichentrick vorbeiziehen.
Und doch, so amüsant und visuell genial das hier streckenweise wieder ist, schafft dieser Stil per se eine Distanz zum Publikum und läuft, wenn die Ideen stellenweise nicht in so hoher Taktung kommen, zwischenzeitlich etwas leer. Ein außergewöhnlicher Liebesbrief an den Journalismus und das gedruckte Magazin ist „The French Dispatch“ trotzdem, auch wenn Anderson und seine Stars den Kritikern in Cannes letztlich kein großes Interesse entgegenbrachten. Eine Pressekonferenz gaben sie jedenfalls nicht.
Nicht weit von der Premiere, in Laufweite vom Palais, fand am selben Abend zudem eine Vorführung statt, die den Nerv der Cannes-Jugend sichtbar getroffen hat. Die jungen Leute umlagerten das Strandkino, wo „Fast & Furious 9“ über die Leinwand rauschte. Aber das x-te Blechschadenspektakel auf dem Festival in Cannes? Das klingt wie der irre Kinoalptraum, aus dem man schnell wieder in der Filmkunstwelt des Wettbewerbs aufwachte. Regisseurin Mia Hansen-Løve zeigte in „Bergman Island“ ein filmschaffendes Paar, das auf die Insel Fårö eingeladen wird, auf der legendäre Filmemacher Ingmar Bergman einst lebte und starb und Teile von „Szenen einer Ehe“ drehte. Mit leichter Hand verbinden sich dabei Bergman-Verehrung, ein Film-im-Film und die mit diesem Hintergrund unvermeidbare Beziehungsbetrachtung.
Ein surrealer Fiebertraum von einem Film, erzählerisch und über verschiedene Zeitebenen mit der Hauptfigur, dem Comiczeichner Petrov, frei umherstreifend, war hingegen der atmosphärische „Petruv’s Flu“ vom russischen Regisseur Kirill Serebrennikow. Der Russe, der wegen einer Bewährungsstrafe das Land nicht verlassen darf, konnte wie schon zuletzt bei seinem gefeierten Jugend-Musiker-Porträt „Leto“ nicht persönlich nach Cannes kommen. Eine Pressekonferenz gab er trotzdem – er ließ sich über einen Bildschirm aufs Podium zuschalten.
Sascha Rettig