Leicht angegraute Haare, etwas untersetzte Figur, unverbindlich freundliches Lächeln – der Mann mittleren Alters, der den Fans vorm roten Teppich in Cannes so nett winkt, könnte sofort als der unauffällige Kollege am Nachbarschreibtisch im Großraumbüro durchgehen. Doch weit gefehlt! Bei dem Daddy von nebenan handelt es sich in diesem Fall um einen Kino-Weltstar, Oscarpreisträger und Kumpel von George Clooney. Matt Damon kam zum Festival, um außer Konkurrenz Tom McCarthys „Stillwater“ vorzustellen, einen Film, in dem er auch genau das verkörpert: einen uramerikanischen Durchschnitts-Papi und ehrlichen Arbeiter aus Oklahoma mit Baseballcap auf dem Kopf und einem karierten Hemd, das er sorgfältig in seine Bluejeans gesteckt hat.
Bill heißt er und fliegt zu Beginn des Films vom Mittleren Westen nach Marseille. Nicht etwa, weil er neugierig wäre, was es außerhalb seines Alltagskosmos‘ noch geben könnte, sondern weil er seiner Tochter helfen will. Die junge Frau ging einst nach Frankreich zum Studieren, wurde dann aber wegen Mordes verurteilt. Jetzt sitzt sie im Gefängnis, beteuert aber nach wie vor ihre Unschuld und hofft, dass der Fall durch eine neue Spur doch noch einmal aufgerollt werden könnte. Als die Anwältin das jedoch ablehnt, macht sich Bill selbst auf die Suche nach dem möglichen Täter – mithilfe einer französischen Theaterschauspielerin, einer Zufallsbekanntschaft.
Ähnlich wie in seinem Journalismus-Thriller „Spotlight“, der 2015 unter anderen den Oscar für den besten Film bekam, geht Regisseur McCarthy auch hier vor: Schnörkellos erzählt er, ganz geradeaus, unterstützt von soliden Schauspielleistungen und lässt auf niedrigem Spannungslevel schmoren, aber durchaus so, dass man reingezogen wird in die Geschichte, die aber plötzlich einen unerwarteten Haken schlägt. Statt Krimi oder Thriller zu sein, nimmt sich „Stillwater“ sehr viel, eigentlich zu viel Zeit, Bill durch den Alltag seines neuen Lebens zu folgen – bis sich bei der Auseinandersetzung mit Schuldfragen die Wendungen in der letzten halben Stunde doch nochmal förmlich überschlagen.
"Benedetta" von Paul Verhoeven
Mit der freundlichen Unauffälligkeit eines Matt Damon kann Paul Verhoeven wahrscheinlich nicht viel anfangen. Im Laufe seiner Karriere war er schließlich immer wieder für filmische Aufreger gut – ob mit Sharon Stones direkten Einblicken im Thriller „Basic Instinct“, der unterhaltsamen Gurkenhaftigkeit seines Erotik-Kolossalflops „Showgirls“ oder zuletzt 2016 mit dem komödiantischen Vergewaltigungsdrama „Elle“ mit Isabelle Huppert, mit dem er triumphal in den Cannes-Wettbewerb zurückkehrte. Wie man nun in „Benedetta“ sieht, hat der holländische Regisseur auch mit über 80 Jahren diese Lust an der – hier religiösen und sexuellen – Provokation nicht verloren.
Inspiriert von wahren Ereignissen, greift er die Lebensgeschichte der italienischen Nonne Benedetta (Virginie Efira) auf, die in der Toskana im 17. Jahrhundert als Novizin in einem Kloster landet. Es geht um wilde, religiöse Visionen und Wunder, die keine sind, um Intrigen, Geheimnisse und die Pest – vor allem aber um die aufflammende Liebegeschichte zwischen Benedetta und der auffällig hübschen Novizin Bartolomea (Daphné Patakia), deren erotische Annäherungen Verhoeven lustvoll mit männlichem Blick ausmalt.
„Benedetta“ ist dabei gern mal sakral dramatisch aufgeplustert, veredelt durch Charlotte Ramplings Anwesenheit und befeuert vom unterhaltsamen Hang zur trashigen Übertreibung: Wenn dem am Kreuz hängenden Jesus von der nackten Nonne das Hüfttuch abgewickelt wird. Oder sich die zwei Nonnen mit einem Holzdildo beschäftigen, den sie aus einer Heiligenfigur geschnitzt haben. Sicher wird es Zuschauer geben, denen dadurch der Puls hochjagt. In der Pressevorführung hingegen sorgten diese Szenen allerdings vor allem für eines: laute Lacher.
Sascha Rettig