Für alle, die das Kino lieben, gab es in den vergangenen Monaten viel Anlass für Liebeskummer. Ist die Pandemie jetzt doch der Anfang vom Ende des Gemeinschaftserlebnisses vor der großen Leinwand? Beschleunigt sich der Trend zum Streaming zu Hause? Ja, haucht das Kino nach monatelangen Schließungen und Stillstand langsam sein Leben aus?

Nein. „Das Kino ist nicht tot“, ließ zumindest Cannes-Festival-Chef Thierry Frémaux zu Beginn der diesjährigen Programm-Pressekonferenz verlauten. Mit leichter Verspätung, verlegt vom Mai in den Juli, soll nun nach einem Jahr Zwangspause ab heute mit den 74. Internationalen Filmfestspielen in Cannes ein schillerndes Lebenszeichen in die Welt geschickt werden. Nach einer längeren Hängepartie im vergangenen Jahr konnte das größte und wichtigste Filmfestival der Welt schließlich nicht stattfinden.

Der Jahrgang 2021 übt sich nicht in pandemischer Zurückhaltung, sondern klotzt, so wie man es erhofft hat. Österreichische Beiträge gibt es mit Sebastian Meises „Große Freiheit“ und C.B. Yis „Moneyboys“ zwar nur in der Nebenreihe Un Certain Regard. Das Programm strotzt ansonsten aber vor großen Kino-Namen: Es ist gesättigt mit ehemaligen Palmengewinnern wie Jacques Audiard („Dämonen und Wunder“) und Nanni Moretti („Das Zimmer meines Sohnes“). Dazu kommen spannende Filmemacher wie Sean Baker („The Florida Project“), der Iraner Asghar Farhadi und der Russe Kirill Serebrennikow, der seinen Film "Petrov's Flu" zeigt, aufgrund einer Verurteilung in Russland aber wahrscheinlich wieder abwesend bleiben wird.

Bis in die Nebenreihen sind hochkarätige Beiträge in dieser Auswahl, die zudem einige Stars verspricht. Das Kino soll dabei, wenn es die Infektionslage erlaubt, mit den entsprechenden Sicherheitsmaßnahmen sogar in vollbesetzten Kinosälen zelebriert werden: mit neuen Filmen genauso wie mit Produktionen, die über die längere Durststrecke zurückgehalten wurden.

In diesem Jahr wurde sogar mit „Cannes Premières“ eine neue Sektion ins Leben gerufen. Regiegrößen wie Oliver Stone, Andrea Arnold, Gaspar Noé und Todd Haynes sind darin vertreten. Zudem zeigen Tom McCarthy das Drama „Stillwater“ mit Matt Damon und Regisseurin Eva Husson „Mothering Sunday“ mit Colin Firth und Olivia Coleman, während Schauspielerin Charlotte Gainsbourg ihr Regiedebüt mit „Jane by Charlotte“ gibt. Doch „Cannes Premières“ ist letztlich nur ein Nebenschauplatz.

Das Hauptaugenmerkt liegt natürlich auf dem Wettbewerb um die Goldene Palme – und über deren Vergabe eine Jury unter Vorsitz des US-Regisseurs Spike Lee entscheidet, die sich außer ihm aus fünf Frauen und drei Männern zusammensetzt. In der Wettbewerbsauswahl – Achtung: jährlicher Cannes-Aufreger – spiegelt sich dieses Verhältnis nicht wider. Von den 24 Beiträgen stammen nur vier von Frauen wie der Französin Mia Hansen-Løve. Es wird nicht der einzige Aufreger bleiben: Nach seinem Vergewaltigungsdrama „Elle“ bringt Paul Verhoeven diesmal die Liebesgeschichte zweier lesbischer Nonnen im 17. Jahrhundert an die Croisette – und scheint auch mit über 80er Jahren die Lust an der Provokation nicht verloren zu haben.

Genauso wie der wilde Regiequerkopf Leos Carax, der so außergewöhnliche, bildstarke Werke wie „Die Liebenden von Pont Neuf“ oder die aufregende Tour-de-Force „Holy Motors“ gedreht hat, die 2012 in Cannes-Konkurrenz lief. Jetzt eröffnet der Franzose das Festival mit „Annette“, dessen Trailer zumindest ein emotional und visuell überbordendes Drama verspricht – mit Adam Driver und Marion Cotillard in den Hauptrollen und der Musik von den Sparks.

Wes Anderson bringt zudem sein Musical „The French Dispatch“, das wie alle seiner Werke mit verschwenderischen All-Star-Besetzung daherkommt, zu der Timothée Chalamet, Frances McDormand und Bill Murray gehören. Auch Sean Penn traut sich nach seiner legendären Kolossalpleite „The Last Face“ 2016 als Regisseur wieder nach Südfrankreich – diesmal mit „Flag Day“.

Wie diese organisatorische Kraftanstrengung in diesen Zeiten in Cannes funktionieren wird? Wie die Strahlkraft des roten Teppichs unter Abstandsregeln und Maskenpflicht leiden wird? Ja, was von den Stargesichtern überhaupt zu sehen sein wird? All das ist allein schon spannend. Selbst in einem normalen Jahr ist Cannes schließlich ein überreglementiertes, hierarchiefixiertes Festival, das es seinen Besuchern nicht wirklich leicht macht. Die Feier des Kinos will sich davon trotzdem sicher niemand vermiesen lassen.

Filmfestival Cannes: 6. bis 17. Juli
www.festival-cannes.com