Es war ein neuer Rekord. 25 Millionen US-Dollar legte Apple TV+ auf den Tisch, um sich den Gewinnerfilm „Coda“ und damit den Weltvertrieb beim Sundance Filmfestival im Jänner nach einem Bieterstreit mit Netflix und Amazon zu sichern. Blöd nur, dass Siân Heders US-Drama eigentlich schon einen Vertrieb hatte. Streamingdienste sind aktuell auf Shoppingtour bei Filmfestivals. Auch bei der Berlinale vorige Woche hat sich die Arthouse-Plattform Mubi Céline Sciammas „Petite Maman“ gesichert – zumindest für die Märkte in Großbritannien, Irland und der Türkei.
In der Kinobranche wird das Einkaufsverhalten durchaus kritisch gesehen: „Für viele Verleiher im Indiefilm-Segment ist es höchst unerfreulich, wenn sich Streamingdienste bei Festivals Filme für den Weltvertrieb sichern. Denn damit stehen diese Filme dem Kino nicht mehr zur Verfügung. Filme, die eigentlich ins Kino gehören und für die große Leinwand gemacht worden sind“, sagt Filmladen-Chef Michael Stejskal, der auch das Votivkino und DeFrance betreibt. In Pandemie-Zeiten mit geschlossenen Kinos und einem Filmstau sei das verständlich, langfristig könne es natürlich Auswirkungen haben. „Ganz so pessimistisch sehe ich es nicht. Mittelfristig denke ich, dass Filme nach wie vor die übliche Verwertungskaskade durchlaufen“, sagt der Verleiher. „In Europa gibt es auch die gesetzlichen Rahmenbedingungen dazu: Erhält ein Film staatliche Förderung, muss er zunächst ins Kino kommen.“
Das hätte eigentlich auch für Ulrike Koflers Debütfilm „Was wir wollten“ mit Lavinia Wilson und Elyas M'Barek gegolten. Am 6. November hätte das Drama über unerfüllten Kinderwunsch hierzulande über die große Leinwand flimmern sollen. Es kam anders: Lockdown statt Premierenparty. Inklusive der bizarren Situation, dass der Film weltweit schon auf Netflix zu sehen und für das heimische Publikum erst Wochen später. „Ich bin über den Netflixdeal sehr dankbar, auch wenn es so nicht mein Ziel war. Ich wollte einen Kinofilm machen und stand dem Verkauf anfangs kritisch gegenüber“, erzählt die Regisseurin. „Dann kam Corona und der Film hatte ein unheimlich großes Publikum – weitaus größer als in meinen allerkühnsten Träumen.“
Da „Was wir wollten“ erst verkauft wurde, als der Film schon in der Fertigstellung war, hätte sich niemand in dramaturgische oder künstlerische Prozesse eingemischt. „In unserem Fall hat niemand mit dem Verkauf gerechnet, dennoch hatte ich eine Klausel im Vertrag, die mir einen Anteil gesichert hat. Das ist der Fairness meiner Produzenten zu verdanken“, so Kofler. Für einen Kinostart habe sie gekämpft. Der soll folgen.
Auch die jüngste Arbeit der vielfach ausgezeichneten Wiener Filmemacherin Sudabeh Mortezai, „Joy“, landete nach einem erfolgreichen Festivalreigen nach der Weltpremiere in Venedig sowie dem Kinostart weltweit auf Netflix. Der Film über den Teufelskreis der Prostitution von nigerianischen Sexarbeiterinnen in Wien hatte so „die Chance, dass er in Nigeria und der nigerianischen Diaspora weltweit gesehen werden konnte“, sagt Mortezai. Die Exklusivität von Netflix sei „ein zweischneidiges Schwert“. Denn: Sobald der Film bei Netflix sei, wird kontrolliert, ob und wo er noch gezeigt werden darf.“ Auf Festivals durfte „Joy“ nur noch laufen, wenn das vorher fixiert war. Bitter: Ihr Vorgängerfilm „Macondo“ sei auf drei Mal so vielen Festivals gelaufen. Das sei nicht nur für die Filmförderung wichtig, sondern auch für Preisvergaben und den Kontakt mit dem Publikum und „wertvollen Gesprächen zum Beispiel in Marokko“.
Kritik ist also angebracht. Sie kommt ausgerechnet auch von Regiestars wie Martin Scorsese, dessen Film „The Irishman“ von Netflix finanziert wurde und der einen 200-Millionen-Dollar-Deal für "Killers of the Flower Moon" mit Apple in der Tasche hat. In einem Essay über Federico Fellini für "Harper's Magazine" warf er nun den Streamingdiensten vor: "Kinokunst wird entwertet, an den Rand gedrängt, erniedrigt und auf die kleinste Schnittmenge reduziert.“ Filme seien, so Scorsese, nur noch „Content“, gleichgesetzt mit Werbung und Katzenvideos.