Auf dem roten Teppich ist es zwar unübersehbar, dass die Pandemie dem venezianischen Glamour zu schaffen macht. Doch es gibt auch in diesem schwierigen Festivaljahr Schauspielprominenz, die Widerstand leistet – persönlich vor Ort am Lido. Nicht nur der Brite Jim Broadbent etwa schaute, wenn auch ohne seine Filmpartnerin Helen Mirren, im Sala Grande für die Premiere der leichtfüßigen Komödie „The Duke“ vorbei.
Auch Vanessa Kirby („The Crown“) kam in die Lagunenstadt und stellte gestern mit dem intensiven Drama „Pieces of a Woman“ den ersten von zwei Wettbewerbsbeiträgen vor, in denen sie die Hauptrolle spielt. Pedro Almodóvar flanierte zwischendurch mit Tilda Swinton, die einen Goldenen Löwen für ihr Lebenswerk bekam, über das Festivalgelände. Der spanische Meister hat mit ihr einen Kurzfilm gedreht. „The Human Voice“ heißt er, dauert eine halbe Stunde und basiert auf einem Ein-Personen-Stück von Jean Cocteau. Swinton schlüpft in die Rolle der Frau, die ein Telefongespräch mit ihrer verlorenen, großen Liebe führt.
Mit dem Film (außer Konkurrenz) demonstriert Almodóvar einmal mehr seine Stärken. „The Human Voice“ hat dieselbe Eleganz in der Inszenierung, die seine Werke seit Mitte der 90er-Jahre und zuletzt sein Meisterwerk „Leid und Herrlichkeit“ auszeichnete: die Farben, die geschmackvollen Details, die kunstvolle Komposition, in der er auch Swinton entsprechend stilvoll in Szene setzt. Ihr allein überlässt er die Bühne, auf der sie als Frau im Krisenmodus eine ganze Bandbreite ihres Spiels zeigt. Sie leidet, sie wütet, sie ist in Trauer und bewahrt sich bei all dem bis zum Schluss wie immer ein gewisses Restgeheimnis.
Dass Greta Thunberg zu Hause geblieben ist, ist natürlich keine Überraschung. Schließlich muss die 17-jährige Ikone des Kampfs gegen die Klimakrise nach einem Jahr Pause nun wieder zur Schule, und klimabewusster ist es sowieso. Daher ließ auch sie sich in der Pressekonferenz zu Nathan Grossmans Doku-Portrait „Greta“ (außer Konkurrenz) per Video-Anruf dazuschalten: „Nathan ist mir anfangs einfach gefolgt, ohne dass ein Film daraus werden sollte“, sagte Thunberg, die ihr Gesicht unbeeindruckt auf eine Hand stützte, während sie vom groß projizierten Videobild über dem Podium in die Runde blickte. „Als die Bewegung dann abhob, wurde auch daraus etwas Größeres.“ In diesem Fall bedeutet das eine freundliche, unkritische Annäherung an die Person Thunberg im Sinne des gemeinsamen Ziels ihrer Bewegung.
Grossman folgt ihr zu den Mächtigen, zu den Politikern dieser Welt, wo sie selbstbewusst ihre Forderungen vorträgt. Das ist nach wie vor beeindruckend und wird noch einmal beeindruckender im Kontrast zu den Momenten, wenn man eine kindlichere Thunberg erlebt. Oder wenn sie auf ihrer Reise zur UN-Klimakonferenz in New York inmitten des Atlantiks auf einem kleinen Segelboot und von hohen Wellen umtost emotional aufbricht und spürt, dass ihr die Verantwortung für das alles zu groß geworden ist. Nachdem die „Fridays For Future“-Bewegung durch die Pandemie ausgebremst wurde, könnte die Doku dem Protest womöglich wieder Momentum verschaffen.
Sascha Rettig