Eine Karriere? Sicherlich, und was für eine erstaunliche Ausnahmekarriere dazu. Schaut man durch Tilda Swintons Filmographie, stößt man auf eine spannende Mischung aus großen Studioproduktionen, Kinokunst und eigenwilligen Autorenfilmen – von ihren Anfängen mit dem britischen Avantgardisten Derek Jarman bis hin zu den Werken von Regie-Persönlichkeiten wie Luca Guadagnino, Wes Anderson und Jim Jarmusch. Und trotzdem: Als die Schottin, die in Venedig sichtlich bewegt mit einer Kino-liebenden Rede den Goldenen Löwen für ihr Lebenswerk entgegennahm, nach ihrer Karriere gefragt wird, zuckt sie lediglich mit den Schultern. „Ich interessiere mich nicht dafür“, sagte sie auf dem Filmfestival bei ihrer Masterclass, bei der sie persönliche Einblicke in ihr Schaffen gab. Die Filmschaffenden, mit denen sie zusammenarbeitet, seien alle enge Freunde. „Wir kochen zusammen, essen zusammen, machen die unsäglichsten Witze und wachsen zusammen auf“, erklärte sie. Die Brüderschaft komme zuerst und aus dieser Brüderschaft entstünden die Filme.
Ihre neueste Liebe, wie sie sagte, sei Pedro Almodóvar. Mit dem spanischen Melodrama-Meister hat sie zuletzt zusammengearbeitet und einen kurzen Spielfilm gedreht. „The Human Voice“ heißt er, dauert eine halbe Stunde und basiert auf einem Ein-Personen-Stück von Jean Cocteau, das zuvor bereits in den 60ern mit Ingrid Bergmann verfilmt wurde. Jetzt schlüpft Swinton in die Rolle der Frau, die ein Telefongespräch mit ihrer verlorenen, großen Liebe führt. „Die kurze Form ist eine Gelegenheit, Film als Labor zu betrachten“, sagte die Schauspielerin in Venedig, wo der Film außer Konkurrenz gezeigt wird. Auch in Almodóvars Fall bringt die Form zwar eine gewisse Freiheit, und doch demonstriert er damit einmal mehr seine bekannten Stärken.
„The Human Voice“ hat dieselbe Eleganz in der Inszenierung, die seine Werke seit Mitte der 90er Jahre und zuletzt sein Meisterwerk „Leid und Herrlichkeit“ auszeichneten: die Farben, die geschmackvollen Details, die kunstvolle Komposition, in der er auch Swinton entsprechend stilvoll in Szene setzt. Ihr allein überlässt er die Bühne, auf der sie als Frau im Krisenmodus eine ganze Bandbreite ihres Spiels zeigt. Sie leidet, sie wütet, sie ist in Trauer und bewahrt sich bei all dem bis zum Schluss wie immer ein gewisses Restgeheimnis.
Am Ende von „The Human Voice“ setzt Swinton den Schauplatz, das Apartment, in Flammen. Die Studiokulisse, die Almodóvar als solche immer wieder auch ins Bild rückt, brennt nieder. Die Feuerwehrmänner kommen zum Löschen. Und Swinton tritt aus dem Studio hinaus: aus der artifiziellen Welt, der filmischen Kunstwelt, auf die Straße, wo der Verkehr vorbeirauscht, in die Wirklichkeit, die das Festivalpublikum in Venedig auch in Jasmila Žbanićs Wettbewerbsbeitrag „Quo Vadis, Aida?“ gleich wieder einholte.
Erneut beschäftigt sie sich in der österreichischen Ko-Produktion mit dem Bosnienkrieg und den serbischen Kriegsverbrechen. Bereits in ihrem Debüt „Esmas Geheimnis“, für das sie 2006 mit dem Goldenen Bären auf der Berlinale ausgezeichnet wurde, thematisierte sie die systematischen Vergewaltigungen während des Krieges. In ihrem Venedig-Beitrag ruft sie nun das Massaker von Srebrenica im Juli 1995 in Erinnerung. Im Zentrum steht dabei Aida (Jasna Đuričić), die im Bosnienkrieg als Übersetzerin bei der UN arbeitet. Als die serbische Armee in der Kleinstadt Srebrenica eindringt, wollen sich Tausende Einwohner ins UN-Camp retten. Auch Aida versucht couragiert mit allen Mitteln, ihren Mann und ihre zwei Söhne in Sicherheit zu bringen.
Die zögerlichen Blauhelm-Schutztruppen agieren größtenteils plan- und hilflos, die serbische Armee unter der Führung des erst 2017 verurteilten Kriegsverbrechers Ratko Mladić gehen denkbar rücksichtslos vor – das zeigt der Film zwar mit einer gewissen Überdeutlichkeit. Der Druck dieser Situation, die Angst, der Widerstandswille und letztlich die Verzweiflung bei diesem Kampf ums Überleben überträgt sich trotzdem in der Inszenierung und wird noch verstärkt, weil schon klar ist, wie die Situation ausgeht: mit dem schwersten Kriegsverbrechen in Europa seit Ende des Zweiten Weltkrieges. In Srebrenica wurden damals mehr als 8000 Menschen – überwiegend Männer und Jungen – ermordet.
Sascha Rettig