Zehn Oscar-Nominierungen: Mit seiner Produktion "Roma" bricht der Streamingdienst Netflix gerade in die Domäne des klassischen Kinos ein. Noch vergangenen Sommer hatte Cannes ein Veto gegen alle Netflix-Produktionen eingelegt, nur Kinofilme durften im Festival laufen. Dann bekam "Roma" in Venedig den Goldenen Löwen. Und jetzt hat der Schwarz-Weiß-Film Aussicht auf mehrere Oscars. Auch die am Donnerstag (7. Februar) startende Berlinale stellt sich dem wachsenden Gewicht von Netflix, Amazon Prime und anderen Streaminganbietern. Zwei Produktionen - darunter "Elisa y Marcela" von Netflix im Wettbewerb - sind in Berlin mit dabei.
Zwar betont Festivalchef Dieter Kosslick: "Wir müssen erstmal klarmachen, dass wir als Filmfestival für Kinofilme zuständig sind." Mit einem Produktionsetat von geschätzten 13 bis 15 Milliarden US-Dollar für 2018 gibt die Plattform inzwischen für Inhalte mehr aus als jedes Hollywood-Studio. Rund 80 Filme hat Netflix im vergangenen Jahr produziert, etwa doppelt so viele wie Warner Brothers, das größte der "Majors". Nicht nur Geld - auch Talent kann Netflix an sich binden, wie das Beispiel von "Roma"-Regisseur und Oscar-Preisträger Alfonso Cuaron ("Gravity") zeigt.
Diesen Sog spürt Kosslick auch in der Festivalzentrale am Potsdamer Platz. Debatten über kontroverse Filme auf der Berlinale? Nein, sagt er, in diesem Jahr erwarte er vor allem eine Diskussion über das Thema Streamingdienste gegen Kino. "Es ist der große Kampf um die Bilder und den weltweiten audiovisuellen Markt." Längst trägt auch die Berlinale den veränderten Sehgewohnheiten Rechnung: Seit einigen Jahren gibt es Serientage, auf denen Neuigkeiten präsentiert werden, darunter heuer auch David Schalkos neue Produktion "M - Eine Stadt sucht einen Mörder".
Welche wirtschaftliche Kraft das Seriengeschäft entfaltet, zeigte sich etwa bei "Babylon Berlin". Die Serie über die 20er-Jahre startete zunächst auf dem Paysender Sky, bevor sie erst knapp ein Jahr später in der ARD zu sehen war. Diesen Zeitvorsprung hatte sich Sky als Koproduzent gesichert.
Was Plattformen wie Uber für Taxis und Airbnb für Hotels sind, werden Streamingdienste für Fernsehen und Filmindustrie: Sie stellen ein Geschäftsmodell infrage, das sich mehr oder weniger über Jahrzehnte bewährt hat. Seitdem es Fernsehen gibt, hat das Kino zwar das Monopol über die bewegten Bildern verloren. Mit den Videos auf Abruf und den Abodiensten, die im Monat kaum mehr als eine Eintrittskarte kosten, entstehen nun aber mächtige Mitspieler, die nach neuen Regeln agieren. Das britische Magazin "The Economist" spricht von "Netflixonomics".
Ob Fernseher, Laptop oder Tablet - mit dem Internet verschwinden die Grenzen zwischen den Geräten, Bilder sind überall verfügbar. Im Buhlen um die Aufmerksamkeit und die Zeit der Zuschauer werden Serien immer wichtiger. Die Plattformen kennen die Sehgewohnheiten ihrer Abonnenten genau und richten ihr Angebot entsprechend danach aus.
Noch versuchen die Festivals mit ihren Regelwerken das Kino zu schützen. Im Berlinale-Wettbewerb, so Kosslick, sollten Filme laufen, "die auf jeden Fall in die Kinos kommen". Zwar wurde auch "Roma" zunächst in ausgewählten Filmtheatern gezeigt, bevor das Werk bei Netflix abzurufen war. Kritiker warnen aber, dass die Streamingdienste Festivals als Werbeplattform für ihre Angebote missbrauchen. Deswegen sieht auch Kosslick dringenden Gesprächsbedarf. Es gehe letztlich darum, "ob das Kino überleben kann und ob die Studios überleben können."