Leidenschaft und Wille sind Vanessa Redgrave in jeder Sekunde anzumerken: Die britische Oscar-Gewinnerin (80, "Julia") hat mit dem Dokumentarfilm "Sea Sorrow" ihr Regiedebüt abgeliefert und thematisiert darin die Flüchtlingskrise. Das Ergebnis ist nicht nur höchst emotional und persönlich, sondern leider auch ziemlich unausgegoren. Am Donnerstag stellt Redgrave ihren Film bei der Viennale vor.
Am Beginn hört man Donnergrollen und schweren Regen, der auf die Blätter fällt: In Italien holt Redgrave drei junge Flüchtlinge vor die Kamera, die den beschwerlichen Weg über das Mittelmeer geschafft haben. Tausende Kilometer haben sie hinter sich gebracht, teils in heillos überfüllten Booten. "Es gab viel Leid auf dem Meer", erzählt einer von ihnen geradezu nüchtern. "Alle hatten Angst. Es war so gefährlich da draußen, aber Gott hat uns gerettet." Diese Sequenz bleibt zwar hängen, doch das weitere Schicksal der drei Männer ungewiss.
Denn Redgrave folgt ihren Protagonisten nicht, sondern springt weiter - von Italien ins französische Calais, wo sie den Labour-Politiker Alfred Dubs in das "Dschungel" genannte Flüchtlingslager begleitet. Auch ein Kamerateam von Sky News ist mit von der Partie, und die Schauspielerin hat in ihrer Doku einfach den kompletten Bericht eingebettet. Nicht der einzige Kniff, der etwas willkürlich bezüglich Gestaltung und Auswahl von Material wirkt. Immer wieder ist Redgrave selbst am Wort, wird von Reportern interviewt oder spricht vor einem Greenscreen mit behelfsmäßig
eingesetzten Bildern aus Kriegsgebieten und Flüchtlingscamps.
Historische Bezüge
Ihr hehres Anliegen vertritt Redgrave ziemlich konsequent -
gerade angesichts verstärkter Tendenzen in Richtung
nationalstaatlicher Abschottung in Europa. Auch zeigt sie
verschiedene historische Bezüge auf, sei sie doch mit ihrer Familie
während des Zweiten Weltkriegs durch die Bombenangriffe zu
"Flüchtlingen im eigenen Land" geworden. Zusätzlich bringt der
US-Dramatiker Martin Sherman eine persönliche Färbung in diesen
filmischen Essay, wenn er von der Flucht seiner jüdischen Eltern
erzählt und die Parallelen zu heutigen Krisenherden aufzeigt.
All das passiert in lose aneinandergereihten Sequenzen, die
letztlich eher den Charme eines schnell zusammengestellten
TV-Berichts haben. Zwar stört das Fehlen von jedweder musikalischen
Untermalung in keiner Weise, allerdings sind Zwischenschnitte mit
raschelnden Rettungsdecken und gleichzeitig eingespieltem
Meeresrauschen doch sehr bemüht. Auch die kurzen Auftritte der
Hollywoodstars Emma Thompson (sie liest Zeitungsberichte von 1938
vor) und Ralph Fiennes (spielt eine Sequenz aus Shakespeares "Der
Sturm" nach) wirken etwas deplatziert, so sinnstiftenden die dadurch
aufgezeigten Querbezüge auch sein mögen.
Letztlich sollte "Sea Sorrow" als das gesehen und interpretiert
werden, was es ist: Der Versuch einer Zeit ihres Lebens politisch
aktiven Frau, mit dem für sie völlig unverständlichen Not unzähliger
Menschen - und allen voran Kinder - umzugehen. Redgrave marschiert
bei Demos in London, gibt Pressekonferenzen in Idomeni und hat nun
auch in diesem Film, der heuer in Cannes Premiere feierte, ihrem
Unmut Luft gemacht. Eine unermüdliche Kämpferin für Menschenrechte
und Menschlichkeit.