Mit "Demain et tous les autres jours" (Morgen und alle anderen Tage) machte das Festival auf der Piazza Grande einen tragikomischen Auftakt: Das Drama von und mit Noemie Lvovsky erzählt die Geschichte der neunjährigen Mathilde, die nach der Scheidung ihrer Eltern bei ihrer Mutter (Lvovsky) lebt. Diese pflegt zwar ein inniges Verhältnis zu ihrer Tochter, hat aber mit großen psychischen Problemen zu kämpfen. In der Rolle von Mathildes Vaters ist der französische Star Mathieu Amalric zu sehen.
Die sensible Filmwahl des künstlerischen Leiters Carlo Chatrian sowie das Wetter sorgten bereits am Eröffnungsabend für die in Locarno einzigartige Stimmung auf der Piazza Grande. Dort geht es am Donnerstagabend mit einem zweiten französischen Spielfilm, "Lola Pater", und der Ehrung der deutschen Schauspielerin Nastassja Kinski weiter. Am Freitag nimmt der US-amerikanische Oscar-Gewinner Adrien Brody ("The Pianist") den Leopard Club Award entgegen.
Von offizieller Seite wurde das Festival traditionsgemäß von Bundesrat und Kulturminister Alain Berset eröffnet. Locarno sei ein "Ort, in dem sich das weltweite Filmschaffen widerspiegelt", sagte Berset am Eröffnungsempfang am frühen Abend. Das Festival habe sich immer wieder neu erfunden und sei dabei sich selbst stets treu geblieben. Bei allem Glamour: "Im Zweifelsfall siegt in Locarno immer die Kunst." 1946, im Gründungsjahr des Festivals, habe sich die Welt neu aufgebaut und das Kino neu erfunden, so Berset, und erinnerte an die verschiedenen weltweiten Filmströmungen, die das Festival im Verlaufe der Jahre und Jahrzehnte mitformten.
In Locarno will man nicht lange verweilen bei Jubiläumsfestivitäten, das machte Chatrian am Mittwoch einmal mehr deutlich. Es gelte den Blick in die Zukunft zu richten. Dennoch wird das Jubiläum mit einer Spezialsektion begangen. Es wurden elf einstige Debütfilme programmiert, die am Filmfestival Premiere gefeiert hatten. Die Entdeckung junger Filmemacher hat in Locarno Tradition.
Zu sehen sein werden etwa Michael Hanekes "Der siebente Kontinent" aus dem Jahr 1989, "San Gottardo" des Schweizers Villi Hermann (1977) oder Todd Haynes "Poison" (1991). US-Regisseur Haynes erhält in Locarno zudem einen Ehrenleoparden.
Mit Astrid Johanna Ofners Spielfilmdebüt "Abschied von den Eltern" nach der autobiografischen Erzählung von Peter Weiss findet sich ein österreichischer Beitrag im Wettbewerb für Erst- und Zweitfilme (Cineasti del presente). Weltpremiere feiert auch ein weiteres heimisches Langfilmdebüt, jedoch außer Konkurrenz: Für ihren Dokumentarfilm "Sand und Blut" interviewten die Filmakademie-Wien-Studenten Matthias Krepp (Regie) und Angelika Spangel (Kamera) Augenzeugen des Kriegs im Irak und in Syrien, die nun als Flüchtlinge in Österreich leben.