Kleine schmutzige Briefe ●●●●○
„Das ist wahrer, als sie denken.“ Dieses Motto stellt Thea Sharrock ihrem kleinen, feinen Film „Wicked Little Letters“ voran. Und tatsächlich passierte die Geschichte fast genau so vor etwas mehr als 100 Jahren im beschaulichen englischen Küstenstädtchen Littlehampton. Heute wäre es ein Fall von Cybermobbing und anonymer Online-Belästigung. Damals ermöglicht das verlässliche Postsystem des Royal Mail Service das Verschicken der „kleinen schmutzigen Briefe“.
Empfängerin ist ausgerechnet die ehrbare christliche Junggesellin Edith Swan, die mit 50 noch bei ihren Eltern lebt, dem grantigen Patriarchen Edward und seiner stillen Frau Victoria. Nicht nur die Namen sind in dieser Geschichte ‚very british‘, auch der betont höfliche Umgangston der bibelfesten Kleinbürger. Umso mehr schockieren die obszönen Briefe voller Flüche und sexueller Beleidigungen, die Edith und andere Einwohner von Littlehampton bekommen. Schnell fällt der Verdacht auf Rose Gooding, die neue irische Nachbarin in der Reihenhaussiedlung. Denn die flucht gerne und schert sich auch sonst nichts um soziale Konventionen.
Die Witwe und Mutter eines unehelichen Kindes lebt mit einem schwarzen Mann zusammen – im England der Zwischenkriegszeit beides skandalös. Klar, dass die hinzugezogene Polizei sie schnell als Hauptverdächtige im Visier hat. Die Klassenkonflikte samt viktorianischen Vorstellungen, wie eine Frau zu sein und zu leben hat, sind unübersehbar. Das konterkariert die gelernte Londoner Theaterregisseurin Thea Sharrock mit einem positiven Blick auf Frauensolidarität inmitten der bürgerlich-patriarchalen Strukturen. Genüsslich kostet sie dabei die Empörung über die schmutzigen Worte aus – im englischen Original herrlich derb. Das bringt komödiantische Frische in den ansonsten recht braven Kostümfilm. Die Aufklärung des Rätsels, wer hinter den schmutzigen Briefen steckt, gestaltet sich dann eher als Comic-hafte Schnitzeljagd, angeführt von der jungen indischstämmigen Polizistin Gladys Moss.
Was die nette kleine Komödie auszeichnet, ist das vorzügliche Schauspiel-Ensemble. Allen voran Olivia Colman und Jessie Buckley, die sich in Maggie Gyllenhaals starkem Regiedebüt „The Lost Daughter“ bereits eine Figur teilten. Auch die Nebenrollen sind mit Timothy Spall als Vater oder Anjana Vasan als Polizistin gut besetzt. (maw)
One Life ●●●●○
Seine Geschichte war bis 1988 unbekannt. Jene des britischen Bankers Nicholas Winton (Anthony Hopkins), der im Jahr 1939 669 Kinder aus Prag vor den Nazis rettete. In diesem oft durchaus konventionellen, aber dennoch berührenden Biopic erzählt Regisseur James Hawes das Leben des bescheidenen Retters auf zwei Ebenen. Zum einen, wie Winton als junger Mann (hier Johnny Flynn) in Prag den Kindertransport aufbaute und diesen bis zur letzten Minute vor Kriegsbeginn mithilfe von unter anderem seiner Mutter (Helena Bonham Carter) von London aus leitete. Zum anderen ist es die Geschichte des älteren Winton, wie er 1987 sein Sammelalbum mit Erinnerungen an Prag einer Historikerin vermacht und dadurch eine Lawine der Erinnerung in Gang setzt, die ihn bis in die populäre TV-Sendung „That’s Life!“ führt. Auch wenn beide Zeitebenen manchmal ein wenig um die Deutungshoheit konkurrieren, so führt der Film letztendlich, wenn auch mit viel Rührseligkeit, zu einer einfachen Erkenntnis: Wie der Talmud schon sagte, wer ein Leben rettet, rettet die ganze Welt. (sg)
Stop making sense ●●●●●
Sie waren Pioniere der New-Wave-Bewegung, haben mit Songs wie „Psycho Killer“ Generationen von Musikschaffenden begeistert und inspiriert: die Talking Heads. Allerdings haben ihre innovativen Klänge nicht nur die Welt des Pop und Rock aufgewühlt. Im Kino setzte Jonathan Demme (für „Das Schweigen der Lämmer“ später mit dem Oscar gekrönt) dem illustren Viergespann um Frontmann David Byrne 1984 ein elektrifizierendes Denkmal – auf dem Höhepunkt ihres Schaffens. Für „Stop Making Sense“ begleitete man die Band mehrere Nächte lang während einer Promotournee. Im Gegensatz zu vergleichbaren Musikfilmen wurden Publikumsshots ausgespart: Ziel war es, unmittelbar ins Konzertgeschehen eintauchen zu können. Zum runden Geburtstag kehrt der Film, der aus gutem Grund als einer der besten seiner Gattung gilt, auf die Leinwand zurück – restauriert in 4K. Selbst in Hochglanzoptik hat das Konzertereignis nichts von seiner Strahlkraft verloren: Zeitlose Musik trifft auf bahnbrechende Bühnenspielereien, unangepasstes Rumgehopse und den sicherlich ikonischten Riesen-Anzug der Filmgeschichte. Ekstase pur – „Same as it ever was!“ (cp)