Als die Kirchenglocken der Villacher Stadtpfarrkirche am Mittwochabend die volle Stunde anschlugen und die feuchten Schwaden der Nebelmaschine über den Rathausplatz wehten, war die gruselige Stimmung perfekt. Doch da war das Publikum schon längst gefangen von dem düsteren Stoff, den Synthesizer-Klängen und der Präsenz der Darsteller: E. T. A. Hoffmanns Kunstmärchen "Der Sandmann" fesselte in der Neuinterpretation von Regisseur Bernd Liepold-Mosser und Naked-Lunch-Mastermind Oliver Welter als technoid-philosophisches Pop-Musical, das mit einem hervorragenden Ensemble begeisterte.
"Wir stehen am Beginn einer utopischen Welt", heißt es gleich zu Beginn von einem Chor aus Eisbären, der über die Bühne tapst: "Wir driften auf unserer Scholle ..." Was mit einer Replik auf den Klimawandel anfängt, wird schnell zu einer Warnung vor der Vermischung von menschlichem Leben und künstlicher Existenz. Der Romantiker E. T. A. Hoffmann erzählte schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts von Nathanael, der sich in die Puppe Olimpia verliebt, die immer zuhört, nie widerspricht. Als er aber erkennt, dass die schöne Frau eine leblose Maschine ist, wird er wahnsinnig und stürzt sich in den Tod.
Verblüffende Parallelen zum Heute
Mit Dialogen in der Sprache der Romantik, deutschen und englischen Liedtexten und kleinen Referenzen an die Gegenwart (Blick aufs Handy, Augen wie der Faaker See) wird eine Geschichte voll verblüffender Parallelen zum Heute erzählt. Die Sehnsucht nach Unsterblichkeit, die Angst vor dem Unheimlichen, der zunehmende Einfluss der Technologie auf Körper und Geist des Menschen – all das ist in der Novelle Hoffmanns bereits angelegt und fasziniert seit 200 Jahren. Man denkt an Sigmund Freud und die Psychoanalyse oder auch an den Science-Fiction-Film-Klassiker "Blade Runner", in dem ein überdimensionales Auge auf eine dystopische Welt blickt.
Oliver Welter und seine Mitmusiker Alf Peherstorfer und Boris Hauf strukturieren mit elf Songs, die zwischen harten Elektronik-Beats und ruhigen Piano-Klängen wechseln, das schaurige Märchen. Nicht nur Welter greift zum Mikrofon – einmal lasziv, dann wieder punkig-aggressiv oder sanft bei einem Wiegenlied – auch die fünf Darsteller interpretieren jeweils Songs. Videoeinspielungen von Tomislav Gangl und die exakte Choreografie von Petra Kreuzer, die die Darsteller phasenweise wie roboterartige Marionetten wirken lässt, machen das rockige Musiktheater von Bernd Liepold-Mosser und Oliver Welter zu einem schaurig-schönen Spektakel.
Das ist auch ein Verdienst der Schauspieler vom Wiener TAG-Theater (Jens Claßen, Michaela Kaspar, Raphael Nicholas, Lisa Schrammel, Georg Schubert), das diesmal Kooperationspartner für das Kärntner Team von "flying opera" ist.
Karin Waldner-Petutschnig