Bereits der Untertitel des Bildbandes – "Von der Venus von Willendorf bis Maria Lassnig" – lässt erahnen: Hier wird keine gewöhnliche Geschichte der "Kunst in Österreich" erzählt, sondern eine mit kritischem Blick auf die bisherige, weitgehend männlich dominierte Kunstgeschichtsforschung. Dies beginnt schon bei der erwähnten, rund 30.000 Jahre alten "Venus", die laut Autorin nicht nur als "Sexidol" und "Fruchtbarkeitsgöttin" interpretiert werden kann, sondern auch als das "Selbstbildnis einer steinzeitlichen Frau" oder als "Kalorienqueen", mit der in Zeiten der Hungersnot "die utopische Hoffnung auf fette Jahre" genährt worden sei. Unter feministischen Vorzeichen steht auch die Forderung, dass der im Stift Kremsmünster aufbewahrte Tassilokelch – neben dem Salzburger Rupertuskreuz das wichtigste österreichische Kunstobjekt des 8. Jahrhunderts – besser "Tassilo-Liutpirc-Kelch" genannt werden sollte. Schließlich sei Liutpirc, die Gemahlin des bairischen Herzogs, gleichrangig auf dem Kelch erwähnt.

Von gotischen Altären und Arbeiterpalästen

Natalie Lettner, die zuletzt mit einer exzellenten Maria-Lassnig-Biografie von sich reden machte, eröffnet nicht nur neue Perspektiven auf altbekannte Meisterwerke, sondern entwirft zugleich ein prächtiges Panorama der heimischen Kunstgeschichte bis in die Gegenwart. Ob es sich dabei um mittelalterliche Buchmalerei handelt, gotische Flügelaltäre, die Arbeiterpaläste des Roten Wien oder die rot-weiß-roten Beiträge für die Biennale in Venedig, die 57-jährige Kunstwissenschaftlerin hat zu allen Themenbereichen und Epochen Substanzielles beizutragen. Statt trockener Fakten überwiegen in ihrem 512-seitigen Bildband reportagehafte Schilderungen, die auch vor Spekulationen nicht zurückschrecken, etwa, dass die besterhaltene antike Großplastik im Alpenraum, also der Jüngling vom Magdalensberg, wohl den "Händlergott Merkur" verkörpert haben dürfte. Dazu kommen ausführliche Exegesen einzelner Kunstwerke wie des in Klosterneuburg gehüteten Verduner Altars, des "Katzen-Mäuse-Krieg"-Freskos im steirischen Pürgg oder Klimts "Kuss", dessen Interpretation zwischen erotischer Verschmelzung und Geschlechterkampf ein breites Spektrum an Denkmöglichkeiten zulässt.

Kunstskandale nach 1945

Dass bei der Fülle an Material auch Auslassungen notwendig waren, ist nur verständlich. Allerdings hätte sich der erste österreichische Kunstskandal nach dem Zweiten Weltkrieg, der Kampf um Giselbert Hokes Klagenfurter Bahnhoffresken, zumindest eine Erwähnung verdient. Spätere Erregungen des "gesunden Volksempfindens", etwa jene um Hermann Nitschs Orgien-Mysterien-Theater oder die Wiener Aktionisten, werden dagegen in aller Ausführlichkeit geschildert und machen das Buch auch zu einem spannenden Zeitdokument. Die schon jetzt absehbaren Neuauflagen dieses bemerkenswerten Bildbandes werden die eine oder andere Lücke problemlos schließen können.

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