Quirlig ist sie und voll Freude auf die bevorstehende Hauptprobe, als sie zum Interviewtermin in der Kantine des Stadttheaters eintrifft. Gerade noch im Hamburger Schauspielhaus in Frank Castorfs "Der Geheimagent" zu sehen, lernt die Berlinerin seit Anfang Dezember Klagenfurt kennen, das sie "erst einmal googeln" musste, als die Anfrage des Stadttheaters kam. Mittlerweile ist sie begeistert: "Das ist ein unfassbar tolles Haus!", schwärmt sie, und in der Tonart geht es weiter: "Das Team und meine Kollegen Dominik Warta und Thomas Gräßle sind bombastisch, die Bühne ist eine der schönsten, die ich je gesehen habe! Ich fühle mich beschenkt!"

Das bezieht sich auch auf die Rolle, die die zarte Blondine in Klagenfurt verkörpern wird: In Ariel Dorfmans Stück "Der Tod und das Mädchen" glaubt Paulina im Arzt Miranda, einem Zufallsbekannten ihres Mannes, den er mit nach Hause bringt, ihren einstigen Peiniger zu erkennen. In ihrer Zeit als Oppositionelle in einer südamerikanischen Diktatur folterte und vergewaltigte er sie zu den Klängen von Franz Schuberts Streichquartett "Der Tod und das Mädchen". Nun will Paulina Rache und mit Gewalt ein Geständnis erzwingen.

Ein harter Stoff, der aber trotzdem unterhaltsam sei, fasst Müller die emotionale Handlung zusammen, die eigentlich als Paargeschichte beginne: "Paulina und ihr Mann sind ein Super-Paar, mit dem man plötzlich gemeinsam vor dem Problem steht, das da im Wohnzimmer ist." Quasi in einem Kammerspiel entwickelt sich die packende Geschichte, die das Publikum dem Ausgang entgegenfiebern lässt. Die verschiedenen Phasen der Wut, Trauer, Rache und des Hasses, die Paulina durchlebt, machen das Stück des chilenischen Autors so eindringlich. "Das Kammerspielartige mag ich. Dabei gelingt das Zeichnen von Menschen am besten", resümiert Anne Müller über ihre Rolle, deren emotionale Bandbreite und Unberechenbarkeit sie schätzt. "Paulinas Sprunghaftigkeit, das ein bisschen Verrückte, das bringe ich auch zu 90 Prozent mit", lacht sie. "Jeder hat seine eigene Geschichte, seinen Koffer, kennt das Gefühl, fehl am Platz zu sein. Doch für mich ist das Unkonventionelle unbedingt verteidigenswert!" In die eigenen Abgründe schauen zu können sei notwendig, um die Wunden heilen zu lassen. Und im dramatischen Finale schafft Paulina schließlich die Befreiung von ihrer Vergangenheit.

Als Vorbereitung auf ihre Figur riet Regisseurin Mira Stadler ihrer Hauptdarstellerin Roman Polanskis Verfilmung mit Sigourney Weaver und Ben Kingsley aus den 1990er Jahren anzusehen. Aber auch der deutsche Film "Alles ist gut" von Eva Trobisch, in dem eine junge Frau ihrem Umfeld ihre Vergewaltigung verschweigt, beeindruckte Müller, die den "Tod und das Mädchen" nicht als Psycho-Thriller verstanden wissen will: "Ich mag lieber das Verführen als das Schockieren."

Auge um Auge, Zahn um Zahn sei ein sehr hoher Preis, den man als Rachsüchtige zahlen müsse: Das Leben gehe weiter, auch wenn man im Moment der Katastrophe das Gefühl habe, "die Welt müsse anhalten".
Die 41-jährige ostdeutsche Bühnen- und TV-Film-Schauspielerin wurde 2008 von der Zeitschrift "Theater heute" zur Nachwuchsschauspielerin des Jahres gekürt. Dass sie auf die Bühne wollte, war ihr schon als Schulkind klar. Als Schauspielerin will sie ihr Publikum "in den Arm nehmen", das Leben "nicht schlimmer machen als es ist, sondern ein bisschen mehr Licht in die Welt bringen."

Bevor das Gespräch aber allzu philosophisch wird, springt sie auf, um in die Maske für die Probe zu eilen. Nach der Premiere wird es ruhiger werden, und sie will den Wörthersee suchen gehen, verrät sie beim Abschied: "Ein bissl verarscht habe ich mich schon gefühlt, als ich draufgekommen bin, dass der See ja vier Kilometer entfernt ist!", grinst sie – und ist schon weg.