Im siebenten Jahr des Bestehens des Preises hatten 58 Verlage 110 Titel für den Österreichischen Buchpreis eingereicht, für den Debütpreis hatten sich 18 Verlage mit 23 Erstlingstiteln beworben. Heute Abend (21. November) präsentierten Dorothee Hartinger und Philipp Hauss, Mitglieder des Burgtheater-Ensembles, im Kasino am Schwarzenbergplatz in Wien die für die Endauswahl nominierten Werke und ihre Autorinnen und letztendlich die Sieger in den beiden Kategorien.

Beim Debütpreis (10.000 Euro) konnte sich Lena-Marie Biertimpel mit "Luftpolster" (erschienen im Leykam Verlag, Graz) gegen Sirka Elspaß  ("ich föhne mir meine wimpern", Suhrkamp) und Anna Maria Stadler ("Maremma", Jung und Jung) durchsetzen. Die 31-jährige Hamburgerin, die in Wien lebt und dort Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst studiert, schreibt über eine Frau, die sich nach dem Suizidversuch ihrer Schwester in die Psychiatrie einweisen lässt. Dort schließt sie nach und nach Freundschaft mit einer Patientin. Zwischen Zigaretten und Ergotherapie, Zusammenbrüchen und Selbstzweifel entscheiden sie sich, den Versuch eines Neuanfangs zu wagen (Verlagstext).
"Ungewöhnlicher, innovativer, ja bestechender kann man eine solche Geschichte gar nicht erzählen!", lobte Schriftstellerkollege Michael Stavarič nach dem Erscheinen des Bandes, und der Kärntner Jurist und Autor Janko Ferk zog ein sportliches Resümee: "Auf diese Art und Weise sowie mit dem Gebrauch dieser Sprache kann man/frau in der Jetztzeit Romane schreiben. Lena-Marie Biertimpel spielt ab jetzt auf Bundesliganiveau".

Die "Shortlist" für den Hauptpreis hatte so ausgesehen: Helena Adler: "Fretten" (Jung und Jung), Reinhard Kaiser-Mühlecker: "Wilderer" (S. Fischer), Anna Kim: "Geschichte eines Kindes" (Suhrkamp)
Robert Menasse: "Die Erweiterung" (Suhrkamp), sowie Verena Roßbacher: "Mon Chéri und unsere demolierten Seelen" (Kiepenheuer & Witsch). Und die Gewinnerin der mit 20.000 Euro dotierten Auszeichnung heißt: Verena Roßbacher.

Die Kritik von unserem APA-Kollegen Wolfgang Huber-Lang


Ein Anwaltsbrief aus Wien, der die längste Zeit nicht einmal vom dafür engagierten "PostEngel" geöffnet wird; eine Protagonistin namens Charly, die kaum Sozialkontakte hat, als sie schwanger wird, aber gleich drei potenzielle Väter aufbieten kann; ein altes Hotel in Bad Gastein, in dem am Ende geboren und gestorben wird – Verena Roßbachers Roman "Mon Chéri und unsere demolierten Seelen" wartet mit einigen Überraschungen auf. Vor allem aber bietet er feinsten Lesegenuss.

Roßbacher, geboren 1979 in Bludenz, hat schon in ihren bisherigen drei Romanen "Verlangen nach Drachen" (2009), "Schwätzen und Schlachten" (2014) und "Ich war Diener im Hause Hobbs" (2018) gezeigt, wie man auf chillige Art Fantasie und Sprachwitz zu Erzählgirlanden verbindet, wie man die Leser in fremde Welten zu fremden Figuren mitnimmt, ohne sie je vergessen zu lassen, dass die Autorin dabei als charmante Reiseführerin den Kurs bestimmt. Ihr "Mon Chéri", mit dem sie "unsere demolierten Seelen" versorgt und dafür heute mit dem Österreichischen Buchpreis geehrt wurde, ist besonders liebevoll komponiert. Vorherrschende Geschmackskomponente ist eher zartbitter als picksüß. Es geht im wahrsten Sinn um Tod und Leben.

Der Kern, also quasi die Piemont-Kirsche des "Mon Chéri"-Romans, besteht aus einem höchst ungewöhnlichen Duo. Ich-Erzählerin Charly Benz (43) hat im Leben bisher weder das Richtige noch den Richtigen gefunden, weshalb sie zu Weihnachten regelmäßig bei den "Notfallessen" ihrer Chefin landet, wo alle Singles ohne Familienanschluss verpflegt werden. Obwohl sie von Marketing keine Ahnung hat, ist sie für die Werbung des Berliner Food-Start-Ups "LuckyLili" verantwortlich, dessen vegane Gerichte überaus erfolgreich sind. Charly, trotz Witz und Eloquenz eher unterdurchschnittlich mit Selbstbewusstsein ausgestattet, hat vor vielem Angst – vor Bindungen und vor Briefen etwa. Weswegen sie Herrn Schabowski engagiert hat, der sich an ihrer Stelle um ihre Post kümmert und sukzessive zu ihrem einzigen regelmäßigen Ansprechpartner wird.

Rund um diese außergewöhnliche Beziehung, in der die vertrautesten Themen per Sie abgehandelt werden, hat Roßbacher viele Schichten an Themen und Nebenfiguren angeordnet, die den Lesestoff mit einer Vielzahl von interessanten Geschmacksnoten und Konsistenzen bereichern. Anders als bei den "LuckyLili"-Müsliriegeln, die hauptsächlich aus billigen Datteln, billigen Cornflakes und teurem Marketing bestehen, sind die Rohstoffe und die Verarbeitung hochwertig. Familienaufstellungen und Krebstherapien, Vergangenheitsbewältigung und Zukunftssorgen, die Suche nach der eigenen Mitte und dem passenden Lebensmodell – all das wird hauptsächlich in langen Gesprächen in Wartezimmern abgehandelt. Denn auch der "PostEngel" hat Angst, vor allem davor, den ihn seit Langem plagenden Schmerzen auf den Grund zu gehen. Frau Benz und Herr Schabowski machen einen Deal – und stehen einander bei. Und die Autorin schafft es, dass der Leser als Dritter im Bunde immer mit einbezogen wird.

Roßbacher hat nicht nur eine Sprache, die Bindung schafft, ohne anbiedernd zu wirken, sondern auch ein gutes Gespür für Timing und Rhythmus. Der Roman, der aus 133 kurzen Kapiteln und "ein paar Worten vorneweg" besteht, behandelt gleich in seinen allerersten Sätzen das Problem von Sexszenen und liefert diese geballt auf den Seiten 302 bis 313 nach, als sich "der liebe Leser selbstverständlich sehr selbstkritisch fragen muss: Habe ich was verpasst?" Oder wurde Charly schwanger, ohne Sex zu haben? Die drei Herren, die als Väter infrage kommen, sind ziemlich unterschiedlich und sorgen auch als zeitweises Werdende-Väter-Kollektiv für hohen Unterhaltungswert. Ab Seite 400 gibt es einen Schauplatzwechsel nach Bad Gastein. Dort steht ein altes, einst mondänes Hotel, das Charlys mysteriöser Mafia-Vater den Kindern vererbt hat (wir erinnern uns: der lange ungeöffnete Anwaltsbrief!) und, von einem schrulligen Hausmeister betreut, im Dornröschenschlaf liegt.

"Mon Chéri" wird nach vielem Getändel und Gehänsel auf den letzten 100 Seiten noch einmal so richtig tiefgründig. Charly entscheidet sich nicht nur für eine Haus-, sondern für eine Hotelgeburt, und auch Herr Schabowski möchte seine letzten Tage lieber in einer Atmosphäre verbringen, die mehr an "Grand Budapest Hotel" als an "Emergency Room" erinnert. Verena Roßbacher steigert hier noch einmal den mit schwarzem Humor verbundenen Skurrilitätsfaktor und trägt bei der am Ende enthüllten Herkunftsgeschichte von Charlys Vater etwas zu dick auf – doch als zum imposant arrangierten Schlussbild mit "Wonderful life" (die Autorin sorgt in vielen Szenen auch für den passenden Soundtrack) der Abspann zu laufen beginnt, macht sich eindeutig Wehmut breit. Schade, dass auch die größte Pralinen-Packung einmal zu Ende gehen muss.

Verena Roßbacher: "Mon Chéri und unsere demolierten Seelen", Kiepenheuer & Witsch, 512 Seiten, 24,70 Euro
Verena Roßbacher: "Mon Chéri und unsere demolierten Seelen", Kiepenheuer & Witsch, 512 Seiten, 24,70 Euro © KK