Wie erzählt man von dem, was eigentlich nicht erzählt werden kann? Wie gibt man den Opfern, denen so lange nicht geglaubt wurde, eine Stimme? Und warum wollte niemand sehen, was der Kärntner Kinderarzt und Heilpädagoge Franz Wurst über fünf Jahrzehnte Kindern angetan hat? Mit diesen Fragen beschäftigt sich das Stück "Nicht sehen" am Stadttheater Klagenfurt. Und wie! Was das Team rund um den jungen israelischen Regisseur Noam Brusilovsky in gut 100 kurzweiligen Minuten leistet, ist so etwas wie eine Operation am offenen Kärntner Herzen.

Brusilovsky verknüpft dafür geschickt Vergangenheit mit Gegenwart, lässt Zeitzeugen auftreten und holt auch die heutige Jugend auf die Bühne. Die beiden Profidarsteller, Petra Morzé und Axel Sichrovsky, geben den Opfern eine Stimme. Sie erzählen unaufgeregt und konzentriert vom systematischen Missbrauch und der unfassbaren Gewalt, die diesen Kindern angetan wurde. In einer berührenden Szene treten auch sie aus ihren fordernden Rollen heraus, um zu erklären, dass sie hier nicht weniger berichten als die Wahrheit und dass sie die "Anwaltschaft" übernehmen für die Opfer, denen so lange nicht geglaubt wurde.

Der Rest des Bühnenteams sind Laien, Expertinnen, Zeitzeuginnen. Horst Ragusch, als Türmer von Klagenfurt und Nachtwächter der Stadt verantwortlich für das "Wohl der Einwohner", führt durch das Stück, durch die Stadt und durch die Geschichte(n). So geht es etwa an die Alpen-Adria-Universität, an der die Psychotherapeutin Jutta Menschik-Bendele lehrte und selbst in bitteren Erfahrungen lernen musste, dass ihre Warnungen vor Franz Wurst von der Politik und von Kollegen einfach nicht gehört werden wollten. Jene, die ihre schützende Hand über Franz Wurst hielten, werden in dem Stück auch klar benannt: der langjährige Landeshauptmann Leopold Wagner etwa, oder der für Gesundheit, Soziales und Krankenanstalten zuständige Landesrat Rudolf Gallob.

Weiter geht es in die Villa des Ehepaars Wurst in Pörtschach, in der Ricarda Wulz als junge Lehrerin von ihrer Kollegin Hilde Wurst auf Kaffee und Kuchen eingeladen wurde - und ausgesprochen neugierig darauf war, wie es eigentlich "in der Villa ausschaut". Gleich danach folgen Opfererzählungen von Sexpartys in eben dieser Villa. Schein und Sein, Opfer und Täter, Status und soziale Benachteiligung: All diese verschiedenen Ebenen werden geschickt auch akustisch-visuell ineinander verwoben. Wenn die Expertinnen erzählen, dann hört man im Hintergrund das Klappern der Kaffeetassen oder das Gemurmel an der Universität. Und auch den Lärm, den Jugendliche machen, die aus der Schule zum Mittagessen kommen: In einer besonders berührenden Szene erzählt Muaz Abou Noumeh von seiner Flucht aus Damaskus nach Kärnten, die ausgerechnet im einstigen Jugendheim in Görtschach bei Ferlach endete, wo Franz Wurst systematisch Kinder missbrauchte. Später wurde es zu einem Heim für unbegleitete Minderjährige und für Muaz ein Ort der Geborgenheit: Dort wurde er mit Pizza und Schokolade auf dem Kopfpolster begrüßt. Mehr als nur ein Funken Hoffnung in dieser düsteren Geschichte: Es kann auch Happy Ends geben.

© Karlheinz Fessl

Für die Hoffnung stehen auch die Mitglieder der Theaterspielclubs, die taffen Jugendlichen von heute: Sie wissen, wie man in das Darknet kommt, sie wissen, wie man eine Leiche entsorgt, sie wissen, wo im Strandbad Marihuana geraucht wird. Und sie wissen alles über Franz Wurst. In einer eindrucksvollen Schlussszene entrollen sie drei Banner mit den Worten: "Wir sehen euch". Man will glauben, dass diesen Jugendlichen heute so etwas nicht mehr passieren kann. Und dann liest man in den Nachrichten, dass in Niederösterreich gerade Anklage gegen einen 35-jährigen Tagesvater und Nachwuchstrainer erhoben wurde, der fast zwanzig Kinder missbraucht hat.

Wer schützt die, die sich selbst nicht schützen können? Nur jene, die auch tatsächlich hinschauen. Eine Mahnung, die eindringlicher nicht sein könnte. Und eine Mahnung, die vom berührten und betroffenen Publikum mit Standing Ovations gefeiert wurde.