Das Foto seines Körpers bedeckt meterhoch die Fassade des Lincoln Center.
„Wie findest du es?“, fragt er mich.
„Wow“, sage ich. Ohne den Blick abzuwenden, steige ich aus dem Taxi. Der Wind hebt meinen Schal. „Nackt siehst du ja noch besser aus!“
Das Foto ist in Schwarz-Weiß, und er trägt nichts außer sehr kurzen, engen Shorts. Vor dem grauen Hintergrund hebt sich sein Körper ab wie eine Figur aus Silber, jeder einzelne Muskel klar und mühevoll herausgearbeitet. Ein Bein hat er angewinkelt, das andere ausgestreckt, gespitzt bis in den Fuß. Der Fuß berührt den Boden nicht. Mein Cousin scheint zu schweben und blickt besorgt zu uns herunter. Ganz leicht zeichnet sich eine Zornesfalte ab. Ein fehlbarer Engel am Tag des Jüngsten Gerichts.
„Wieso guckst du da so ernst?“, frage ich.
„Tanz ist eine ernste Angelegenheit“, antwortet er.
„Du hast ja gar kein Brusthaar. Musstest du dich für das Foto am ganzen Körper rasieren?“
„Du bist süß“, sagt er. „Gehen wir, die Vorstellung ist aus, und ich will dir jemanden vorstellen.“
Vor dem Eingang halten wir beide inne. Durch die Glasfassade des Theaters dringt warmes Licht zu uns heraus. Drinnen, weit drinnen in dem palastartigen Foyer, sehen wir Männer und Frauen mit Sektgläsern stehen.
„Von außen hat es so etwas Heimeliges“, sagt mein Cousin.
„Von außen sieht es so schön aus, wie es drinnen niemals sein kann“, sage ich. Einen Moment lang verspüre ich den Wunsch, draußen zu bleiben.
„Komm“, sagt er. Am Ärmel meines Mantels zieht er mich hinein.
Der junge Mann, den mein Cousin zur Begrüßung auf den Mund küsst, ist noch ein wenig kleiner als er selbst und heißt Nick. Nick schaut mich an und gleichzeitig auch nicht, sein Blick hält sich nirgends lange auf. Sein ganzes Gesicht ist zu einem Lächeln verzogen. Die Zähne sind gebleacht. Er sagt etwas, aber es ist nichts, das eine Antwort verlangt, dann verschwindet er in der Menge. Wir blicken ihm nach, und ich hasse ihn. Er ist Amerika für mich. Er wird meinen Cousin vögeln, als betriebe er Hochleistungssport, aber er wird ihn niemals lieben.
Mein Cousin nimmt mir den Mantel ab. „Bin gleich wieder da“, sagt er.
„Ein Drink wäre toll“, rufe ich ihm hinterher.
Ich stehe allein am Rand. Ich sehe Statement-Ketten. Graues Haar mit Sidecut. Budapester mit Kreppsohlen. Ich beobachte Nick, wie er sich mit einem älteren Paar unterhält. Ständig reißt er die Augen auf, ich kann nicht lange hinsehen.
Mein Cousin kommt mit zwei Gin Tonic zurück. Wir nippen und schweigen. Ein paar Menschen winken ihm zu. Ein paar Menschen zeigen ihm ein Daumen-hoch, sie wirken ein wenig ehrfürchtig. Einer ruft: „Hey, Kenny, can't wait!“
„Sie nennen dich Kenny?“, sage ich. Und dann: „Schon seltsam, du hängst fast nackt an der Fassade, aber keiner von den Leuten hier weiß, wer du wirklich bist.“
„Und du? Du hast ein Buch in Ich-Form vollgeschrieben. Du hast dich genauso entblößt. Aber kennt dich deshalb jemand wirklich?“
Er zeigt auf die weiße Skulptur in der Mitte des Foyers. Es sind zwei Frauen aus weißem Marmor, ohne Gesichter. Sie stehen eng beieinander, fast wie siamesische Zwillinge.
„Wir sind wie die beiden“, sagt er.
„Wer sind die?“, frage ich.
„Zwei Zirkusfrauen. So heißt die Skulptur, mehr weiß ich nicht.“
„Unser Großvater, der Vater unserer Väter, hat in seinem Landstrich die Pistazie kultiviert“, sage ich.
„Ja. Und ist das nicht irre, was aus uns geworden ist? Du kommst mit deinem Buch für eine Lesung nach New York, und ich bin der Star der Paul Taylor Dance Company.“
Ich schweige.
„Ich zeige dir was“, sagt er und trinkt in einem Zug sein Glas leer.
Der Zuschauerraum ist verlassen, aber noch hell erleuchtet. Kurz bin ich von der Größe überwältigt. Mir war nicht klar, wie viele Menschen meinem Cousin zusehen. Mein Cousin schließt die Eingänge.
„Setz dich“, sagt er zu mir.
Ich gehe durch das leere Parkett, wähle Mitte, Reihe vier. Ich stelle mein Glas auf den Boden, lege den Beutel mit meinem Buch auf den Nebensitz. Mein Cousin verschwindet.
Ich sitze allein im Theater. Es ist still. Ich blicke hinauf. Exakt über mir, an der Decke, hängt eine riesige Kugellampe.
Mein Cousin erscheint mit einem Satz auf der Bühne, auf dem Streifen zwischen Rampe und Vorhang. Er fixiert mich, neigt den Oberkörper vor, streckt die Arme seitlich aus und dreht sich wie ein Propeller. Er hebt die Füße nacheinander in die Luft, nacheinander setzen sie auf, tap tap. Er hält den Blickkontakt. Verliert er ihn in der Drehung für einen kurzen Moment, nimmt er ihn danach sofort wieder auf.
„Das ist der Barrel Jump“, sagt er im Sprung. „Barrel, weil es aussieht, als rolle man auf einem Fass dahin. Das kann ich mir so gut vorstellen; ich auf einem Fass einen Abhang hinunter, immer weiter bergab.“
Er macht noch ein paar von den Barrel Jumps, dann bleibt er abrupt in der Mitte stehen. „Weißt du noch, wann du davon erfahren hast?“ Seine Stimme wirkt nicht lauter, aber voller.
Ich bin mir nicht sicher, wovon er redet. Dennoch sage ich: „Da war ich Anfang zwanzig, glaube ich.“ Also vor knapp zwanzig Jahren.
Mein Cousin und ich, wir haben noch nie darüber geredet. Wir haben es noch nicht einmal versucht. Ich habe es nicht versucht.
„So spät erst? Warum glaubst du, hat es dir damals niemand erzählt? Als es passierte, meine ich.“
„Ich war da erst zehn“, sage ich. „Vermutlich deshalb.“
„Du musst etwas lauter sprechen, bitte.“
„Ich war da erst zehn!“
„Und ich war erst zwölf“, sagt er. „Hätte ich es nicht erlebt, hätte ich auch nichts davon wissen wollen.“
In meinem Bauch lodert eine Flamme auf. Ich bin froh, dass ich mich nach meinem Gin Tonic bücken kann.
Mein Cousin öffnet sein Hemd und zieht es aus. Er steigt aus seinen Schuhen und streift die Hose ab. Er lässt alles so liegen, wie es fällt, und geht in Unterhose und Socken langsam zum linken Bühnenrand.
„Einer“, sagt er, „ging so.“ Er zieht die Schultern hoch und beugt seinen Oberkörper leicht vor. Mit Tippelschritten eilt er zum rechten Bühnenrand.
Ich lache, obwohl ich ahne, dass es nicht lustig ist.
Mein Cousin bleibt ernst. „Wer hat es dir erzählt?“
„Mein Vater“, sage ich.
„Wie das? Wie kam er dazu?“
„Er wollte eigentlich nur deine Mutter schlechtmachen. Er sagte, sie habe dich ins Unglück gestürzt. Ich glaube, er hatte gar nicht vor, es mir zu erzählen.“
„Ich liebe meine Mutter“, sagt mein Cousin. Er schließt kurz die Augen, als müsse er seinen Gefühlen noch einmal nachspüren.
„Ein anderer ging so“, sagt er dann. „Er winkelt die Arme an, als würden sie sonst über den Boden schleifen. Er schiebt Schultern und Kopf vor. O-beinig stapft er zurück zum linken Rand. Dort krümmt er den Rücken und lässt den Oberkörper nach vorne fallen.
„Machst du das auch manchmal, alles baumeln lassen?“, fragt er. Er sieht mich durch seine herabhängenden Arme, kopfüber an.
„Zu selten, schätze ich.“
„Ja“, sagt er, „du bist immer angespannt. Das sehe ich.“
„Gewohnheit“, sage ich. „Das ist das Ausländerkind in mir.“
Er lacht und richtet sich auf. Dann legt er die Hände zusammen wie zum Gebet und führt die Fingerspitzen zum Mund. Langsam schreitet er in die Mitte. Er zieht sich das Hemd über, breitet die Arme aus und spricht, wie Schauspieler in Theatern mittelgroßer Städte sprechen:
„Wir nehmen ein Land der Dritten Welt, wie es damals noch hieß. Ein Land mit muslimischer Mehrheitsbevölkerung. Suchen Sie sich eins aus. Unser Großvater hat dort in einer kargen Landschaft die Pistazie kultiviert. Ersetzen Sie Pistazie gerne durch eine andere Frucht. In dieser Landschaft, unweit antiker Ausgrabungsstätten, aber weit entfernt von der Moderne, wuchsen unsere Väter in einer kleinen Stadt auf. Sie stammten aus keiner vermögenden Familie, und auch aus keiner Kleriker-Familie. Die Familie unserer Väter genoss dennoch Ansehen; wegen der Pistazie. Sie kannten also arm und reich, verkehrten in beiden Welten. Sie sahen die Differenzen und konnten nicht anders, als politisch zu denken. In den sechziger Jahren gingen unsere Väter, bevor sie Väter wurden, in den Westen, um zu studieren. Viele, viele andere Väter taten dasselbe.“
Er springt in die Luft. Rechts, links. Die Füße geflext, die Knie nach außen, es hat etwas Närrisches. „Sie studierten Medizin, Bauingenieurwesen, Elektrotechnik. Die Selbstsüchtigeren unter ihnen studierten Architektur.“
„Mein Vater war nicht selbstsüchtig“, rufe ich, meine Hände vor dem Mund zu einem Trichter geformt.
„Pssscht“, sagt er.
Eine Tür geht auf. Ein Mann in dunkelblauer Uniform steckt seinen Kopf herein. Als er meinen Cousin auf der Bühne sieht, entspannen sich seine Gesichtszüge. „Kenny, du? Alles ok?”
„Alles ok, Bob. Oder nein: Würde es dir etwas ausmachen, meiner Cousine aus Europa noch einen Gin Tonic zu bringen? Bevor das Barpersonal nach Hause geht? Ich bin gerade mitten in einer Vorstellung. Danke dir!“
Bob schaut irritiert. Ich schätze, er ist nicht viel älter als wir, aber die Kappe und der Schnurrbart, das Hemd, das über dem Bauch spannt, und der Schlüsselbund an seinem Gürtel lassen ihn älter wirken. Er sieht mich an, so als müsste er sich vergewissern, dass ich auch tatsächlich aus Europa komme.
Ich lächle, zeige ihm meine etwas schief stehenden, ungebleachten Zähne.
„Klar doch“, sagt er und geht. Die Tür fällt geräuschlos zu. Ich horche, von draußen kein Laut. Das Foyer scheint sich geleert zu haben.
Mein Cousin legt sich auf den Rücken, lediglich sein Brustkorb hebt und senkt sich. Wie schön, denke ich, wäre es, wenn das hier tatsächlich eine Vorstellung wäre. Wenn ich nicht wüsste, woraus sich das Leid des Darstellers speist.
In einem Fotoalbum, das ich nach dem Tod meines Vaters an mich genommen habe, klebt ein Bild von 1982. Mein Cousin und ich sind darauf zu sehen, ich drei, er fünf Jahre alt. Wir halten Händchen. Wir haben beide den gleichen rot-blau-weiß gestreiften Nickipullover an, ich trage eine braune Latzhose aus Cord. Den Hintergrund bildet eine sandfarbene Felswand; das wäre unser natürlicher Lebensraum gewesen. Die Wand wirft keinen Schatten, denn die Sonne steht im Zenit. Sie blendet mich. Mein Cousin hat eine Schirmmütze auf dem Kopf, seine Augen sind fast nicht zu erkennen. Aber ich weiß, dass er sehr lange Wimpern hatte. Manchmal umarmte er mich, wenn wir abends nebeneinander einschliefen, und ich spürte sie auf meiner Wange. Er war sehr hübsch, er entzückte die Menschen, überall, im Supermarkt, im Park, vor dem Eisladen. Er hätte das Mädchen werden sollen, nicht ich, sagten unsere Verwandten. Jemand muss das Foto geschossen haben, kurz bevor meine Eltern mit mir nach Deutschland gingen. Mein Onkel, seine Frau und mein Cousin blieben.
Die Tür öffnet sich. Bob hält den Drink in der Hand, etwas steif kommt er auf mich zu.
Mein Cousin richtet sich auf. „Wenn du uns jetzt wieder allein lassen könntest? Danke, Bob, du bist wundervoll.“
Sein Ton! Wenn ich es nicht besser wüsste, könnte ich glauben, er hätte seine Sommerferien seit jeher in den Hamptons verbracht.
Ich drehe mich zu Bob um. Bob tut, was mein Cousin sagt, er geht, doch als er den Türgriff in der Hand hält, zögert er.
„Bob, bitte.“
Ich fahre herum. Die plötzliche Kälte in der Stimme meines Cousins macht mich schaudern. Die Tür fällt zu. Wir sind wieder unter uns.
Ich möchte meinem Cousin näher sein und setze mich in die erste Reihe. „Frierst du nicht?“, rufe ich ihm über den Orchestergraben zu.
„Doch“, sagt er, dann steht er ruckartig auf und rennt an den linken Bühnenrand. „Einer ging so.“ Im Stechschritt überquert er die Bühne. „Ein anderer so.“ Auf Zehenspitzen tänzelt er zurück. „Und einer so.“ Er legt sich auf den Bauch und schlängelt sich auf die andere Seite. Dort angekommen hält er inne.
„Im Ernst“, sagt er, noch auf dem Bauch liegend, „seine Beine waren von einem Tag auf den anderen gelähmt. Aber niemanden scherte das, keiner besorgte ihm Krücken. Er hatte vorher zu den besonders fiesen Typen gezählt, und viele rächten sich jetzt, indem sie auf ihn draufstiegen, einfach so, wenn er ihnen im Weg war. Und dann taten sie, als wären sie in Hundescheiße getreten. Ich war froh, weil auch ich mich immer vor ihm gefürchtet hatte. Andererseits tat er mir leid, ehrlich. Du kennst mich.“
„Ja“, sage ich, „du konntest nicht einmal einer Heuschrecke ein Bein ausreißen.“
Mein Cousin verzieht das Gesicht.
Ich will diese Frage nicht stellen, glaube aber, dass er sie von mir erwartet: „Als der Typ noch gehen konnte, was hat er da mit dir ...?“
„Lass das“, schnauzt er mich an.
Ich senke den Blick. Er darf das, denke ich, er hat alles Recht der Welt.
„Wo waren wir stehen geblieben?“, fragt er.
Der Vorhang geht ruckartig in die Höhe, ich erschrecke, lege die Hand auf meinen Brustkorb. Hinter dem Vorhang kommt ein Raum zum Vorschein, komplett beigefarben ausgekleidet mit einem Material, das weich wirkt. Als könne man sich dagegenwerfen, ohne dass man sich wehtut. Selbst die Ecken sind abgerundet. Es muss das Bühnenbild für die Vorstellung sein, die am Abend gelaufen ist, das Bühnenbild der letzten Szene, noch immer ausgeleuchtet.
Auch mein Cousin blickt sich um. „Fühlt sich an wie in einer Gebärmutter“, sagt er. „Schau mal, wie viel Platz ich jetzt habe!“ Er rennt den Raum einmal ab, ganz nah an den Wänden, die er mit der linken Hand streift.
„Ich kitzle meine Mutter von innen“, sagt er.
Ich lache.
„Du lachst wie dein Vater“, sagt er und bleibt stehen. „Ach ja: Unsere Väter gingen ins Ausland, um zu studieren. Sie waren so hoffnungsvoll. Sie waren Dinosaurier, die glaubten, den Lauf der Geschichte ändern und sich ihrer Auslöschung entgegenstellen zu können. Sie saugten in wenigen Jahren alles Wissen auf, von dem sie glaubten, es könnte helfen, aus ihrem Dritte-Welt-Land ein erstklassiges Land zu machen.“ Er formt mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis und küsst die Stelle, an denen sie sich berühren. „Bellissima! Dann kehrten sie zurück in ihre Heimat, wie sie ihr Land damals noch nannten. Heimat.“
Er breitet die Arme aus und fängt an zu lachen, aber nicht wie sein Vater, er lacht wie ein Fremder, und ein sehr unangenehmes Gefühl flutet mich. Ich kann es nicht fassen, es rinnt mir durch die Hände, doch es war den ganzen Abend schon da, das spüre ich erst jetzt, und es verschwindet auch nicht mehr ganz, als mein Cousin schlagartig wieder aufhört zu lachen. Er rennt im Kreis über die Bühne, die Arme wie Flügel nach hinten ausgestreckt. Er zieht den Kreis enger, dreht sich immer schneller um die eigene Achse. Und fällt hin.
„Ein erstklassiges, blockfreies Land“, sagt er außer Atem. „Wie dumm sie waren! Wie größenwahnsinnig! Hätten sie sich mal mit weniger zufriedengegeben.“
Ich habe das Gefühl, dass da jemand ist. Im Sitzen drehe ich mich um, schaue hinter mich, doch ich bin immer noch allein.
„Hör mal“, sage ich, „meinst du nicht, wir sollten nach Hause gehen? Die schließen doch bestimmt bald.“
„Wir bringen das jetzt hier zu Ende“, sagt mein Cousin.
Er zieht die Socken aus und erhebt sich langsam, schreitet nach vorne an den Bühnenrand. Seine Zehen umklammern die Kante, er beugt sich zu mir vor. „Komme ich eigentlich vor in deinem Roman?“
„Ja“, sage ich, „aber nur am Rande.“ Ich fühle mich ertappt, obwohl ich mit der Frage gerechnet habe.
„Nur am Rande? Ich bin nicht die Hauptfigur?“ Seine Fassungslosigkeit wirkt aufgesetzt und echt zugleich. Rückwärts läuft er zurück in die Tiefe der Bühne. „Ich komme nur am Rande vor? Bin ich ich oder bin ich anders?“
„Du bist ein wenig anders.“
„Was ist anders an mir?“
„Du bist Fondsmanager, nicht Tänzer. Tänzer kam mir zu klischeemäßig vor.“
„Und bin ich schwul?“
„Nein. Das kam mir auch zu klischeemäßig vor.“
„Also bin ich, so wie ich bin, ein Klischee?“
„Nein, du bist das Gegenteil davon. Aber erst auf den zweiten Blick.“
„Lies die Stelle über mich vor.“
„Es ist auf Deutsch, du verstehst nichts!“
„Egal. Lies vor. Mir reicht der Rhythmus, um zu verstehen.“
Ich nehme das Buch aus dem Jutebeutel und blättere darin herum. Für einen Moment verliere ich jegliche Orientierung zwischen den Seiten, und genau davon handelt es auch: Von der Orientierungslosigkeit, wenn alles auseinanderfällt. Für den Roman habe ich rückblickend alles zusammengeklaubt und neu zusammengesetzt, hoffend, dass etwas entsteht, das jemand anderes als Bild erkennen kann.
Ich blättere, lese einen halben Satz, blättere weiter. Die Stelle mit dem Cousin könnte überall sein, mit ihr könnte die Geschichte beginnen und enden. Sie könnte in der Mitte stehen, sie könnte nirgends stehen, und nur während des Schreibens in meinem Kopf existiert haben. Ich konzentriere mich.
Der Cousin kommt in Rom vor, sie, die Hauptfigur, und er gehen in ein teures Restaurant essen. Den ganzen Tag sind sie durch staubige Ruinen gestapft, dann plötzlich überfällt sie der Hunger, und der Cousin bittet per Messenger eine italienische Kollegin in New York um einen Tipp, und sie empfiehlt diese Trattoria, einfach, aber exquisit. Die Hauptfigur und der Cousin fallen dort ein, in Sneakers und ungekämmt. Dunkel, dunkler als die Italiener sind sie außerdem. Der Kellner behandelt sie von oben herab, und die beiden bemühen sich nach Kräften, das zu ignorieren. Wie sie seit ihrer Kindheit alles nach Kräften ignorieren, das nicht zu ihrem Selbstbild passt. Jetzt, wo sie erwachsen sind und viel Geld verdienen, ist es einfacher. Der Cousin, als Fondsmanager reicher als mein Cousin, weiß um die Kreditkarten in seiner Gesäßtasche, er weiß, dass er am Ende über den Kellner triumphieren wird. Sie verdient in meinem Roman auch deutlich mehr Geld als ich, sie ist Versicherungsmathematikerin. Was aber ist, wie es wirklich ist: Sie und der Cousin hängen aneinander und treffen sich regelmäßig an irgendeinem Ort der Welt. Überall rund um den Globus, nur dort nicht, wo sie geboren wurden.
Was auch wahr ist: Sie haben noch nie darüber geredet, was er mit zwölf Jahren erlebt hat, weil es ebenfalls nicht zu ihrem Selbstbild passt. Die Hauptfigur denkt aber, dass es jetzt Zeit ist, einmal, nur einmal darüber zu reden. Weil sie alt und gefestigt genug sind, und weil sie noch jung genug sind, Midlife-Crisis, Depression, Bluthochdruck sich noch nicht zwischen sie schieben konnte. Sie fragt ihn nach dem Aperitiv und bei Vitello Tonnato: Willst du mir davon erzählen?
Er sagt Nein und bestellt eine Flasche Wein.
„Hast du es endlich?“, fragt mein Cousin.
„Ja. Jetzt. Seite 115.“
Ich lese vor:
‚Willst du mir davon erzählen?‘, fragt sie. ‚Nein, will ich nicht. Ich will eine Flasche Wein.‘ Er hebt die Hand ganz leicht, gerade bis zur Tischkante, zu einem angedeuteten Peace-Zeichen. Der Kellner versteht, nickt und verschwindet im Keller. Sie schweigen, bis er mit einer Flasche Weißwein zurückkommt. Er schenkt Iman...
„Du hast mich Iman genannt? Wie das Topmodel?“
„Ja. Schlimm?“
„Schon okay. Lies weiter.“
Er schenkt Iman ein.
Ich halte inne. Mein Cousin tanzt zu meinen Sätzen. Ich möchte hinsehen, kann aber nicht hinsehen und gleichzeitig vorlesen. Ich fahre fort und höre dazu die Geräusche, die er beim Tanzen macht. Die Füße, die auftreten oder den Boden streifen, den Stoff des Hemdes, der raschelt, wenn er sich dreht, seinen Atem. Ich höre, wie sein Körper Luft verdrängt.
Er schenkt Iman ein. Iman nimmt einen Schluck und lächelt den Kellner an. Es ist ein minimales Lächeln, nicht mehr als ein leichtes Hochziehen der Mundwinkel. Er hat gelernt, mit angedeuteten Gesten zu kommunizieren. Er hat so viel gelernt in der New Yorker Upper Class. Er hat noch mehr gelernt in einem thailändischen Gefängnis. In beiden Welten gilt: Geize mit Informationen, alles kann eines Tages gegen dich verwendet werden.
So kennt bis heute niemand seine Geschichte. Wie würden seine Freunde, die ihre Kindheit in den Hamptons verbrachten, reagieren, wenn sie sie erführen? Iman war gerade zwölf Jahre alt geworden, als seine Mutter beschloss, den Iran zu verlassen. Unbedingt, sofort. Imans Vater wollte nicht. Er versuchte sie davon zu überzeugen zu bleiben, und als ihm das nicht gelang, versuchte er sie dazu zu überreden, einen Antrag auf Einwanderung nach Kanada zu stellen. Aber sie hatte die Geduld nicht, musste raus, um jeden Preis. Gefälschte Papiere kosteten sehr viel. Sie verkaufte alles, was sie besaß. Mit Dollarnoten am Körper bestiegen sie und Iman eine Maschine nach Bangkok, von dort aus sollte es weitergehen nach Toronto. Doch bei der Passkontrolle in Bangkok flogen sie auf. Seine Mutter brachten sie in ein Frauengefängnis, Iman in ein Männergefängnis. Dort blieb er sechs Monate. Um diese sechs Monate erzählten fortan alle Verwandten in einem großen Bogen herum. Diese sechs Monate wurden zum Sperrgebiet, zum Tschernobyl der Familiengeschichte, die ohnehin an Boden verlor. Das Letzte, was einzelnen Verwandten, die um die Welt verstreut lebten, noch erwähnenswert schien: Der Großvater hat in ihrem Landstrich die Pistazie kultiviert.
Iman leert das halbe Glas mit einem Schluck und sagt: ‚Es ist egal, was ich mit zwölf erlebt habe. Wir sind doch toll geworden, oder?'
Ich verstumme.
Mein Cousin bricht mitten in der Bewegung ab. „Das war's?“, fragt er.
„Ja, als sie am nächsten Morgen im Hotelzimmer aufwacht, ist er schon weg.“
„Bisschen sehr dramatisch“, sagt er. „Sie schlafen in einem Bett?“
Ich sage nichts.
Er tritt vor, setzt sich mittig an den Bühnenrand, lässt die Beine baumeln. „Mir ist aufgefallen, du holst nie tief Luft, weder beim Schreiben noch beim Vorlesen. Du musst dir mehr Raum nehmen. So wie ich.“
„Deshalb bist du Tänzer geworden? Um dir mehr Raum zu nehmen?“, frage ich.
Ein Dröhnen lässt mich zusammenzucken. Ich schaue nach oben und sehe, wie sich zwei Plexisglasscheiben parallel zueinander wie Vorhänge herabsenken. Mein Cousin erhebt sich langsam. Er macht drei Schritte zurück und bleibt stehen. Eine Wand setzt krachend vor ihm auf, die andere hinter ihm.
Ich drehe mich um. Ist da jemand? Doch da ist niemand, noch immer nicht.
„Kian, was soll das hier?“, rufe ich.
Mein Cousin reagiert nicht. Er bewegt sich zwischen den Wänden, springt, versucht Drehungen, stößt sich, prallt ab, stürzt. Ich möchte mir die Ohren zuhalten, aber da ertönt seine Stimme vom Band: 90 Zentimeter, so breit war meine Matratze in der Zelle. Das war der Raum, der mir zur Verfügung stand. Eigentlich. Aber dann nahm sich einer der Häftlinge – er ging so: Mein Cousin rennt an den linken Bühnenrand und stakst, als wären seine Gelenke steif, an den rechten Rand.
Einer der Häftlinge nahm sich meiner an. Am dritten oder vierten Tag schon. Ich nannte ihn Stihl, weil auf seinem Unterarm eine Kettensäge von Stihl tätowiert war. Stihl wich nicht von meiner Seite. Die anderen respektierten ihn. Dafür sollte ich ihn unterhalten. Du bist so schön, sagte er zu mir, zeig mir etwas. Was sollte ich ihm zeigen? Ich war zwölf Jahre alt und konnte nichts. Zeig mir irgendetwas!, schrie er mich an. Mir fiel ein anderer Insasse ein, der ging wie ein Gorilla. In meiner Verzweiflung imitierte ich ihn. Stihl lachte sich tot. Mehr!, brüllte er. Ich ahmte einen anderen Insassen nach, einen Kleinwüchsigen mit Stummelbeinen. Stihl konnte gar nicht genug davon kriegen. Mehrmals am Tag lieferte ich ihm nun eine Show. Dafür schickte er alle anderen in eine Ecke, er räumte mir die ganze Zelle frei, damit ich genug Platz hatte. Und ich wurde besser. Ich beobachtete die anderen immer genauer. Ich fing an, die Gangarten ineinanderfließen zu lassen. Ich fing an zu tanzen. Stihl amüsierte sich prächtig. Er hatte ein einfaches Gemüt, Gott weiß, womit er sich Respekt verschafft hatte. Manchmal musste ich ihm auch einen blasen. Darin wurde ich auch besser. Danach schenkte er mir immer ein Bonbon. Wenn ich Stihl nicht gehabt hätte -
Ich sehe das rote Rinnsal auf dem Plexiglas erst, als es fast auf der Höhe seines Kopfes angelangt ist. Ich blicke hoch. Weitere Rinnsale folgen, rechts und links, hinter und vor ihm. Es werden immer mehr, aus den Rinnsalen wird ein Strom, der die Wände hinunterfließt und unten am Boden einen See bildet.
Ich springe auf: „Kian! Was soll das?“
Er steht jetzt still da. Seine Stimme spricht:
…um die Geschichte der Väter zu Ende zu bringen: Sie gingen zurück in ihre Heimat und machten Revolution. Sie, die Dinosaurier, löschten sich selbst aus.
Mit einem Schlag wird es dunkel. Hinter der blutroten Wand glaube ich die Umrisse meines Cousins zu erkennen.
„Kian? Kian!“
Ich greife nach dem Jutebeutel, stoße das Glas um und renne Richtung Ausgang. Ich versuche die Tür zu öffnen, doch sie ist schwer, ich lehne mich mit meinem ganzen Gewicht dagegen und stemme sie auf.
Unzählige Köpfe, die gerade noch nach oben gereckt waren, senken sich, unzählige Augenpaare sehen mich an. In die Stille hinein höre ich mich atmen. Ich gehe zwei Schritte vor und sehe auf einer Leinwand über uns die roten Plexiglaswände im Dunkeln. Ein paar Menschen fangen an zu klatschen. Immer mehr klatschen, schließlich alle. Das Klatschen wird lauter, einer ruft Bravo und manche pfeifen, als mein Cousin neben mir erscheint. Er trägt einen Bademantel und sieht mir in die Augen, und ich weiß nicht, ob das jetzt nur etwas zwischen uns ist oder noch Teil der Show. Er legt den Arm um mich, und als hätte ich nie etwas anderes getan, verbeugen wir uns. Als ich mich wieder aufrichte, schwillt das Klatschen und Pfeifen und Johlen abermals an. In den Gesichtern: Mitgefühl, Mitleid, Respekt.
Allein die marmornen Zirkusfrauen ragen ungerührt aus ihrer Mitte heraus.
„Ausverkauft“, flüstert mir mein Cousin ins Ohr, „und jetzt lass uns gehen, ich brauche dringend ein warmes Bad.“
Nava Ebrahimi