Die Aufführung in Salzburg schien mir im vorhinein, etwas was so leicht Profanierung werden könnte, dass ich mich fürchtete, und zaudernd den letzten Tag vor der Aufführung erschien.“ Das gestand Hugo von Hofmannsthal im November 1920 in einem Brief an den Schriftsteller Rudolf Pannwitz. Hofmannsthals flaues Gefühl bei der Erstaufführung seines „Jedermann“ auf dem Domplatz war freilich bald verflogen gewesen: Die von Max Reinhardt inszenierte Aufführung hinterließ bei Publikum – und beim Dichter – einen tiefen Eindruck.
Dass das „Spiel vom Sterben des reichen Mannes“ 100 Jahre später noch das Zentrum des Salzburger Festspielsommers ist, war damals nicht absehbar, obwohl das Stück schon bei seiner Uraufführung 1911 (im Berliner Zirkus Schumann) seine Lebensfähigkeit zeigte. Der Theaterzauberer Max Reinhardt, der schon die Berliner Premiere
inszeniert hatte, legte jene Parameter fest, die bis heute die Besonderheit der Salzburger Aufführung ausmachen: die katholisch-österreichische Kulisse des Doms, von der das Spiel seinen Sinn erhält und die seinen Reiz entfacht.
Wer sich heute dem nach alten Vorbildern gebauten Text nähert, wundert sich trotzdem über den Langzeiterfolg. Die künstliche Archaik des „Jedermann“, seine klumpigen, bisweilen rhythmisch deformierten Verse, mit denen Hofmannsthal eine Art Pseudo-Mittelalter konstruierte, wirkt ebenso fremd wie der stets erhobene Zeigefinger, die holzgeschnitzte Moral und knöcherne Religiosität des Stücks. Dabei ist das fromme Sprach- und Glaubensgetöse dieses Scheinmittelalters nur der Mantel für ein Stück, in dem Hofmannsthal die Fragen seiner Zeit wälzte.
Jedermann ist nicht nur ein wohlhabender Protz und Prasser, ein hartherziger, gieriger Egoist. Er ist als Reicher ein Privilegierter, aber seine Privilegien sind keinesfalls rein materieller Natur. Er ist zugleich eine Allegorie auf das von Gott losgelöste Individuum, ein Mensch ganz nach der Fasson der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, die solche Loslösung als Befreiung verstand. Jedermann ist ein selbstbestimmter Souverän in einer säkularisierten Welt, in der „ein jeder Mensch in seinem Bereich / Schier einer kleinen Gottheit gleich“, wie er dem Schuldknecht entgegnet, als ihm dieser seinen Materialismus vorhält. Der selbstherrliche Individualist Jedermann zögert nicht, die bürgerliche Ordnung in Stellung zu bringen, wenn es ihm nützt. „Ist alls schon recht, muss nur dafür / Ein Fug und Gesetz auch walten“, wehrt er das Flehen um den Erlass der Schulden ab.
Die „First World Problems“ eines privilegierten, heute würde man „alten, weißen Mannes“ sagen, scheinen in den Jammereien durch, wenn die Bittsteller ihm lästig werden: „,Ein reicher Mann‘ ist schnell gesagt / Doch unsereins ist hart geplagt.“ Den Glauben ersetzt er durch Sinnenreiz. Über die Buhlschaft sagt Jedermann: „Ist recht ein paradiesisch Gut / Was ihre Lieb mir bereiten tut.“
Der Mensch in der Krise
Ende des 19. Jahrhunderts gerät das europäische bürgerliche Individuum, befreit von religiösen Bindungen und verstrickt in die Mechanismen des Kapitalismus, in eine tiefe Seinskrise. Die Naturwissenschaften bauen die Weltwahrheit in immer schnellerem Takt um, die ökonomischen Umwälzungen und die Entstehung neuer Weltanschauungen erschüttern das Bild vom Menschen, der sich letztlich auf die Couch der ebenso gerade neu erfundenen Psychoanalyse begibt. Die Hälfte der Literaten jener Zeit (Hofmannsthal inklusive) beschäftigt sich mit diesem in die Krise geratenen Subjekt im Hagelsturm der Moderne.
Die antikapitalistische Grundierung von „Jedermann“, in dem Hofmannsthal den Mammon als eigentlichen Herrscher der Welt demaskiert, ist nicht marxistisch, sondern steht in der Tradition christlicher Kapitalismuskritik. Der Götze Geld wird zum Symbol jenes „Zustands furchtbarer sinnlicher Gebundenheit, in welchen das 19. Jahrhundert uns hineingeführt hat“, wie Hofmannsthal an anderer Stelle notiert. Das Geld und seine Glücksversprechen sind nur ein Angriffsziel im „Jedermann“, der Autor stellt die bürgerliche Gesellschaft und den Individualismus mit infrage. Zur fast gleichen Zeit entsteht ein literarisch ungleich bedeutenderes Werk als „Jedermann“, in dem die aufklärerisch gefärbte Auffassung vom Individuum ebenso kritisiert wird. Der Jesuit Leo Naphta erklärt in Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“ seinem Kontrahenten, dem Aufklärer Settembrini: „Ihr Individualismus ist eine Halbheit, er korrigiert Ihre heidnische Staatssicherheit durch ein wenig ,Recht des Individuums‘, ein wenig sogenannte Freiheit.“ Naphta postuliert dagegen einen „Individualismus, der von der kosmischen Wichtigkeit der Einzelseele ausgeht, ein nicht sozialer, sondern religiöser Individualismus“.
Man mag in Naphta, einem zum Katholizismus konvertieren Juden, sogar einen literarischen Wiedergänger Hofmannsthals erkennen, der in seinem christlich getränkten „Jedermann“ ähnlich auf die Zumutung der Aufklärung reagiert. Für Hofmannsthal, bei dem Antiliberalismus, Antikapitalismus und Antimoderne problemlos zusammengehen, wird der christliche Glaube, das spirituelle Anknüpfen an die Tradition des österreichischen Katholizismus ein Rettungsanker aus den Unbilden der Zeit.
Im „Jedermann“ ist der Katholizismus jedoch nicht allein Glaube, sondern auch historisch-kulturelles Erbe, er wird gleichsam zu einer Haltung sowie zu einem Stil. Es ist ein faszinierendes Kapitel der Mentalitätsgeschichte Österreichs, dass gerade ein solches Werk zur Stütze der „Kulturnation“ avancierte. „Jedermann“ in Salzburg wurde kontinuierlich zum Kult, zu einem Theaterritus, bei dem die besten Schauspieler das Amt des Vorgängers übernehmen wie in einer dynastischen Handlung. Eine Ersatzmonarchie in der Parallelwelt Kunst.
Und doch läuft der „Jedermann“ Gefahr, zum leeren Ritus zu werden, zu einem der Feigenblätter der „Kulturnation“. Gerade die Coronakrise hat gezeigt, dass diese „Kulturnation“ wenig realpolitisches Gewicht hat. Und das Phänomen „Jedermann“ selbst wurde zum Starvehikel, zum Medienereignis, wo selbst die Kleider der Buhlschaft heftig debattiert werden. Da schimmert jene „Profanierung“ durch, vor der Hofmannsthal 1920 sich geängstigt hatte. Es ist aber zugleich ein sehr menschliches Korrektiv zu den sehr ernsten, sehr strengen Intentionen des Autors. Gäbe es nicht immer auch ein bisschen von dieser „Profanierung“, wir würden dieses allegorische Moralstück wohl nicht mehr länger anschauen wollen.