Es geht in die finale Kurve: Heute hat in Salzburg die letzte szenische Produktion dieser Festspiele Premiere, der Schweizer Theatermacher Milo Rau setzt sie in Szene. „Everywoman“ ist eine Auseinandersetzung mit zentralen Themen des „Jedermann“, dessen erste Festspielpremiere am 22. August 1920 sich am Samstag zum 100. Mal jährt.
Das Stück ist ein Solo für die Schauspielerin Ursina Lardi, die allerdings streng genommen nicht allein auf der Bühne steht: Sie interagiert mit Videozuspielungen einer Frau, die derzeit in einem Hospiz das Ende ihres Lebens erwartet. Die Berliner Lehrerin Helga Bedau weiß seit dem Frühjahr, dass sie an inoperablem Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt ist. Sie hat eingewilligt, auf der Bühne über eine Sache zu sprechen, über die sie noch nichts weiß: den Tod.
„Genau wie wir“, sagt Rau. „Wir scheitern alle an der Frage des Todes. Wir nutzen unsere Zeit oft für Schwachsinn. Und wenn das Todesglöckchen erklingt, versuchen wir schnell noch, den Sinn des Todes zu verstehen.“ In ihrer dritten gemeinsamen Arbeit konzentrieren sich Rau und Lardi also auf die Frage, worauf Menschen am Ende ihres Lebens zurückblicken und was sie zurücklassen.
Nach coronabedingt abgebrochenen Recherchen im Amazonasgebiet führten Interviews in Hospizzentren sie schließlich mit Bedau zusammen. In dem so entstandenen Stück sieht Rau nun gar eine Art Erlösungspotenzial: „Ich glaube nicht an Metaphysik, aber an Solidarität und Menschlichkeit. Mich interessiert die Frage, was wir zusammen im Leben sein können, sodass der Tod akzeptabel wird.“ Seit Längerem gilt der Schweizer als einer der radikalsten und aufregendsten Vertreter des dokumentarischen Theaters. In „Die Moskauer Prozesse“ stellte er reale russische Gerichtsverfahren gegen missliebige Künstler nach. Das sechstägige Reenactment „Das Kongo Tribunal“ zeigte die Politik und Wirtschaft der afrikanischen Nation in einer neokolonialen Verteilungsschlacht um Bodenschätze. Seine „Europa Trilogie“, in Auszügen im steirischen herbst zu sehen, behandelte die zeitgenössischen Auswirkungen imperialistischer Vergangenheit.
Und als er 2018 mit seinem „International Institute of Political Murder“ die künstlerische Leitung des Niederländischen Theaters Gent übernahm, versprach Rau in seinem „Genter Manifest“ den rigorosen Bruch mit Theaterkonventionen – darunter ein Verbot wörtlicher Klassiker-Adaptionen sowie die Selbstverpflichtung, in jedem Projekt Laien einzusetzen und mindestens eine Produktion pro Saison in einem Krisen- oder Kriegsgebiet ohne kulturelle Infrastruktur zu proben und aufzuführen.
Letztlich, so Rau vor einiger Zeit in einem Interview mit der Kleinen Zeitung, beschreibe die Kunst, „wenn es um das Jetzt geht, immer Endzeiterfahrung und Beginn“. Mit dem aktuellen Stück, sagt er nun, wolle er in einen Raum vorstoßen, der „auf absolute Weise leer“ sei. Nur eines ist „Everywoman“ definitiv nicht: „Wir wollten gar nicht erst anfangen, daraus ein feministisches Manifest zu machen.“ Stattdessen wird aus dem „Jedermann“, der großen dramatischen Geste, etwas zutiefst Intimes, Persönliches zu den letzten Dingen. Was für ein Geschenk zum 100. Geburtstag.
Milo Rau:Geboren 1977 in Bern. Regisseur und Autor, bisher rund 50 Theaterstücke, Filme, Bücher, Aktionen. Touren durch rund 30 Länder. 2007 Gründung der Produktionsgesellschaft International Institute of Political Murder. Seit 2018 Intendant des NTGent, mit dem Anspruch, dieses als „globales Volkstheater“ zu etablieren.
Ursina Lardi:Geboren 1970 in Samedan/CH. Lehrerinnenausbildung in Chur, Schauspielstudium in Berlin. Theaterengagements u. a. am Deutschen Schauspielhaus Hamburg, an der Berliner Schaubühne und am Berliner Ensemble. Im Kino war sie u. a. in Michael Hanekes „Das weiße Band“ zu sehen, im TV häufig im „Tatort“ und in „Polizeiruf 110“.
Ute Baumhackl