Der Wirt erkennt das helle Bellen der KTM-Maschine von Weitem: „Der Moretti!“ Auf dem Rücksitz seine Tochter Antonia, beide vorschriftsmäßig mit Helm, der auch die Prominenz des Lenkers vor Blicken schützt. Das Landgasthaus Buberlgut im Süden der Mozartstadt zählt zu den Lieblingslokalen des Schauspielers und der Festspielzunft. Viele Premieren sind hier in den vergangenen Jahren spätnachts ausgeklungen. Das wird heuer anders sein.
Am Eingang eine in Schwarz-Weiß gehaltene Fotowand mit Bildern heutiger und gestriger Schauspiel-Ikonen. Drei Buhlschaften hat der 61-jährige Tiroler schon verschlissen, er sagt: „Sie haben sich selbst verschlissen.“ Noch während der Bestellung drängt Moretti auf den Einstieg in das Gespräch, wie ein Ventil, das geöffnet werden will. Seine Kernbotschaft: die Festspiele als Zeichen. Nach dem Interview warten vor dem Dom die letzten Proben und die Präsentation der beiden Kleider der Buhlschaft. Es ist das einzige Schauspiel, bei dem Tobias Moretti nur Statist ist.
Sie spielen zum letzten Mal im „Jedermann“, im hundertsten.
Tobias Moretti: Falscher Anfang.
Falsch?
Es ist nicht der hundertste „Jedermann“, sondern der 100-jährige.
Was ist der Unterschied?
Der hundertste wäre nichts, der 100-jährige alles. Es geht darum, dass dieses zeitlose Mysterienspiel, Mysterienspektakel ein Jahrhundert überdauert hat und nichts von seinem Zauber verloren hat. Die Premiere wird von mehreren Fernsehanstalten übertragen, auf Kinoleinwänden in Berlin, in Brüssel und im Innsbrucker Dom. Auf den Tag genau zum Jubiläum läuft sie dann auf Arte. Das ist schon eine überwältigende Vorstellung: Vor hundert Jahren war es Moissi und jetzt darf ich es sein. Und in hundert Jahren ist es vielleicht gar kein Mensch mehr, sondern ein Android.
Martin Kusej, der Burgtheater-Chef, sagt, Sie hätten auf ihn warten sollen.
Ja, das wäre sicher auch spannend gewesen. Es hätte wahrscheinlich eine Sprengung gegeben. Oder etwas Ähnliches. Manchmal ist man halt etwas zu spät dran. Kusej wollte den Hundertjährigen machen, mit mir. Aber als Markus Hinterhäuser 2017 die Intendanz übernahm, wollte er das Festival neu definieren und ihm mehr künstlerisch-politische Radikalität geben. Wenn man unter diesen Vorzeichen gefragt wird, steigt man mit Freude ins Boot. Und da gab’s keine andere Option.
Es ist ein Stück über das falsche Leben, das auf den letzten Metern eine Läuterung erfährt. Kann es sein, dass dieses überständige Mysterienspiel durch die Pandemie plötzlich hochpolitisch geworden ist, als Lehrstück über die Notwendigkeit der Erneuerung des Lebens und der Gesellschaft? Das Stück ist nicht überständig. Es gab immer wieder kulturelle Phasen, in den 70ern und 80ern, auch davor und danach, wo das Stück tatsächlich quer zur Zeit stand und mehr an der Aufführungstradition als an sich selbst gemessen wurde. Dieses Stück ist aber mittlerweile – und das ist jedem klar – eine Applikation, nicht nur in dieser Krise, sondern auch eine Applikation auf die gesamte Gesellschaft. Ob das aus religiöser oder anderer Reflexion gesehen wird, ist da zweitrangig.
Woran hat die Gesellschaft gelitten, ehe sie heruntergebremst wurde?
Es ist immer ein Zuviel, alle Gesellschaften und auch der Einzelne merken kaum das Überschwappen, das Überreizte. Unsere Gesellschaft befand sich an jener Schwelle, wo sie vom Zenit einer Kultur in eine Dekadenz weitergetrieben wird, weil sie nicht mehr in langen Bögen denkt. Das ist irgendwann der Abgrund, und das Irgendwann ist nah. Und der Jahrhundert-„Jedermann“ ist dafür eben auch ein Spiegelbild.
Was macht das Unverwüstliche des Stücks aus?
Das ist das Thema an sich, schon seit der Urfassung im 15. Jahrhundert. Der Moment des Lebens und Sterbens eines reichen Menschen als Prototyp auch für eine weltliche Gerechtigkeit. Es sind die Augenblicke der Stille am Schluss, in einer Zögerlichkeit, die eine tiefe Irritation verrät. Früher war oft am Ende ein frommes Getöne, unser Schluss ist klar und schlicht. Jeder spürt in diesem Moment, dass dieses Stück auch ihn und sein Leben etwas angeht, die Art, wie man es lebt und anlegt. Das Phänomen des Sterbenmüssens ist klassenlos relevant. Ich bin da für unseren Schluss auf einen Rückert-Text gestoßen, der kein Gebet ist, sondern eine Erkenntnis. Das führt dazu, dass alle auf unterschiedliche Art erfasst oder gestreift werden von diesem Moment.
Diese abgeschlankten Festspiele in der Krise wirken wie der Versuch, der Wirklichkeit eine Normalität abzuringen, die draußen noch immer nicht zu haben ist. Ein trotziges Wagnis.
Es ist kein Trotz, es ist keine Flucht. Denken Sie an den ersten „Jedermann“ 1920. Die Überlebenden hatten noch den Ersten Weltkrieg in den Knochen. Millionen von Menschen – krepiert wie die Fliegen – und dann noch die Spanische Grippe, die einen ähnlichen Charakter gehabt hat wie das jetzige Virus, nur noch verheerender. In dieses Vakuum hinein wurde der erste „Jedermann“ auf die Bühne gebracht. In eine Gesellschaft hinein, die völlig desorientiert war und nicht den Hauch einer Identität mehr gehabt hat. Reinhardt hat hier seine Vision von der Identität durch Kultur umgesetzt. Es war ein Zeichen einer Form von Hoffnung und eines Perpetuum, dass es irgendwie weitergeht. Dieser Geist hat Rabl-Stadler und Markus Hinterhäuser irgendwie dazu genötigt, es doch zu erkämpfen und stattfinden zu lassen, und das nicht nur mit großem Einsatz, sondern auch mit Schlauheit und kluger diplomatischer Strategie.
Wie kommen Sie als Künstler mit den Einschränkungen zurande? Wie viel Unbehagen ist mit im Spiel?
Wir stellen uns den Vorgaben. Für uns Schauspieler ist es weniger ein Problem, in einem hermetischen System uneingeschränkt zu arbeiten und zu wirken, als diese absurde, ursprünglich angedachte Expertenidee vom Bühnendialog mit Maske – lächerlich. Wir sind angehalten, der Verantwortung gerecht zu werden, und das tun wir. Wir nehmen ein bis zwei Tests pro Woche in Kauf. Wir können kaum ausgehen und sollen uns nicht mit betriebsfremden Personen treffen. Das sind die Spielregeln. Es ist gut und richtig so. Es sorgt dafür, dass wir hier arbeiten können.
Die Kunst des Spiels auf der Bühne lebt von Nähe, von Intensität und Intimität. Wie lässt sich das mit den rigorosen Sicherheitsgeboten vereinbaren?
Ja eben, „darauf verfing sich ja der große Plan“. Wir sind in drei in sich geschlossene Gruppen unterteilt. Die, die auf der Bühne miteinander spielen, die Musiker und Schauspieler, dann die Gruppe der Regisseure, Assistenten, des Regie- und Bühnenstabs, das ist die orange Gruppe. Und die gelbe Gruppe, das sind die Bühnenarbeiter, Platzanweiser und so fort. So ist das eingeteilt. Sowie wir die Bühne betreten, legen wir die Masken ab und können drauflosspielen. Wir haben als weltweit wichtigstes Kulturereignis diese Bedingungen zu erfüllen, denn wir stehen alle auf dünnem Eis.
Es gibt Kritiker, die die Antwort der Politik auf die Pandemie, die Strenge und die Maßnahmen, ideologisch infrage stellen.
Ich ertrage die Larmoyanz und den Darwinismus mancher Negierer oder Verharmloser nicht mehr, die alles aufrechnen, die Alten gegen die Jungen, damit die anderen ungestört weitermachen können und, wie wir sehen, in neue Katastrophen hinein. Mit Maß und ein bisschen Weitsicht ist unsere Gesellschaft und auch die Wirtschaft sicher mit Einschränkungen, dieser Herausforderung gewachsen. Aber die Befindlichkeiten und das Wehklagen, dass man sich nicht mehr berühren dürfe, dass alle traumatisiert und geschädigt seien, hat was Enges, zutiefst Uneuropäisches. Plötzlich nehmen alle die, die einem grenzenlosen Europa huldigen, gar nicht mehr wahr, dass ein paar Hundert Kilometer weiter Menschen in den Krankenhäusern verrecken, dass in Italien über 600 Ärzte, 900 Schwestern und Pfleger, die alle keine 80 Jahre waren, gestorben sind. Von anderen Ländern wie Frankreich, Schweiz, England, Spanien gar nicht zu reden. Und daher ist es gerade jetzt so wichtig, zu sagen, dass es in Spanien innerhalb von drei Tagen 6000 Neuinfizierte gibt. Das ist ein Problem von Fluktuation und Sorglosigkeit, auch des Tourismus.
Wird die Krise, der tiefe Einschnitt den Menschen bessern oder bleibt er ein Jedermann?
Es geht nicht um die Ausrufung des neuen Menschen. Ich bin da nicht naiv und kein Prophet. Es geht um das Maßlose der Gesellschaft und einer Wirtschaftsideologie, um die allgegenwärtige Verfügbarkeit in einem globalen Hamsterradl. Dieser Zugriff muss eingebremst werden.
Rufen Sie nach einem radikalen Systemwechsel?
Ich glaube, man muss nicht ein kapitalistisches System umwerfen, aber man muss es geraderichten und mit Verantwortung aufladen. Dieser Wohlstandskörper braucht ein Fundament, damit wir nicht auf radikale Lösungen in Zukunft angewiesen sind. Radikale Lösungen neigen zum Totalitären, so was können wir nicht wollen. Es geht um eine europäische Identität innerhalb unserer Wirtschaft, um eine Befreiung aus globalen Abhängigkeiten. Denn am Zenit der Krise haben wir alle mit Schrecken gesehen: Es gibt nicht einmal einen Joghurtbecher, der nicht aus China kommt, kein Schuhband, keine Arznei, kein Fieberthermometer, keine Beilagscheibe.
Muss sich die Art zu leben ändern?
Ich kritisiere nicht den Wohlstand. Ich kritisiere nur das Zuviel, den Exzess. Jeder von uns hat im innersten Kern ein Korrektiv. Dieses Korrektiv ist durch die Möglichkeit des grenzenlos Verfügbaren verloren gegangen, weil das Verfügbare nicht mehr von einer Kultur begleitet war, sondern nur noch vom Immer-mehr. Wir sind wieder beim „Jedermann“.
Das Zuviel betrifft auch die Exzesse des Spaßtourismus. Gehört das nicht in die Fortsetzung der „Piefke-Saga“?
Natürlich. Aber das Problem wird ja hier auch sichtbar. Der Tourismus lebt davon, dass Leute in unser Land kommen, die unsere Mentalität und Identität schätzen, dafür zahlen sie Geld, und viele bei uns können dadurch leben und Identität erhalten. Nun haben wir durch das Überbordende der letzten Jahrzehnte eine Situation geschaffen, die den Tourismus in ein Dilemma brachte. Wir haben die Situation einer ganzen Generation, die gar nicht in der Lage ist, für das auch einzustehen und zu arbeiten.
Weil sie nicht kann? Weil sie nicht will?
Die Abhängigkeit der Expansion vom Investment ist gigantisch, auch für die Jüngeren. Darüber hinaus hat die Elterngeneration die Jungen ausschließlich in den akademischen Touristikerverband entsandt, alles Bachelors, und nun können sie nur noch delegieren und nicht mehr arbeiten, und weil sie das nicht wollen und können, werden sie sich selbst und auch unsere Identität auf dem freien Investmentmarkt preisgeben. Und das muss auch irgendwie das Thema der neuen „Piefke-Saga“ sein, und nicht nur eine Aufarbeitung dieser unappetitlichen Ischgl-Geschichte. Da müssen wir einen Markstein setzen wie in den ersten Folgen, sonst braucht man es gar nicht zu machen.
Was ist heuer in Salzburg anders?
Die Stadt übt gerade die alte Betriebsamkeit. Dabei ist schon eine gewisse Katharsis, eine Art Selbstbescheidung spürbar. In den Geschäften und Lokalen singen sie nicht das Klagelied, dass im letzten Jahr viel mehr Umsatz gewesen sei, sie sagen, es geht uns gut, wir sind zufrieden, wir freuen uns.
Hollywood steht still, alle Theater und Opernhäuser ebenso. Was wird aus Ihrem Beruf?
Es ist alles mehr als furchtbar, auch wenn es Menschen in anderen Berufen ähnlich ergeht. Hier in Österreich haben wir wenigstens eine Perspektive, auch wenn sie momentan verschoben ist. Besonders schlimm sind die Existenzängste in Amerika, wo kein Netz da ist. Da sind die Besten der Besten von einem Tag auf den anderen gekündigt worden. In England detto. In Frankreich. In Spanien. Die Begabtesten wussten nicht mehr, wo sie was zu essen kriegen, und verdingten sich als Pizzaboten. Sie machen das zum Teil mit Würde. Da muss man auch einmal seiner eigenen latenten Larmoyanz entgegentreten und sagen: Das richtet mich wieder gerade.
"Jedermann" von Hugo von Hofmannsthal. Noch zu sehen am 11., 13., 14., 17., 20., 22., 23., 24. und 26. August, 21 Uhr. Karten und Information: Tel. (0662) 8045-500.salzburgerfestspiele.at