Als Ausgangspunkt des Spaziergangs, bei dem Sie Ihr ganz persönliches Salzburg zeigen, wählten Sie den Max-Reinhardt-Platz. Aus praktischen Erwägungen, weil Festspielhaus und Ihr Büro hier angrenzen?
HELGA RABL-STADLER: Ich wähle diesen Platz sehr absichtsvoll. Denn ich bin stolz darauf, dass in dem damals bereits so antisemitisch geprägten Salzburg Franz Rehrl, ein Christlichsozialer, der von 1922 bis März 1938 Landeshauptmann war, diesen Platz nach dem großen Theatermann benannte und diesen zusätzlich mit einem hohen Orden ausgezeichnet hat. Rehrl und Erzbischof Franz Rieder waren Reinhardts kongeniale Partner. Rieder machte gegen Widerstände innerhalb der Kirche den Domplatz für die Festspiele auf, erlaubte Orgel und Glockenspiel zu benützen. Die Nazis entfernten sofort mit der Machtübernahme 1938 das Namensschild. 1946 wurde er wieder der Max-Reinhardt-Platz.
Ein großes Plakat verkündet quasi das Motto der Festspiele zu ihrem 100er: „Wo der Wille nur erwacht, dort ist schon fast etwas erreicht.“ Ein Zitat von Hugo von Hofmannsthal. Eine Selbstermunterung in einem Jubiläumsjahr, über das plötzlich eine Krise schwappte?
Mitten in der Coronakrise fand der Leiter unseres Kartenbüros dieses Zitat. Da beschloss ich, selbst immer auf der Suche nach neuen Hofmannsthal-Zitaten, das ist der beste Leitspruch in der Coronazeit.
Ein Zitat jedenfalls gegen das Verzagen, von dem Sie nie bedroht zu sein schienen. Während andere Festspiele absagten, setzten Sie beharrlich auf Zuwarten. Dachten Sie nie daran, auch in Salzburg die Festspiele Corona zu opfern?
Ich bin überzeugt, dass wir die einzig richtige Lösung gefunden haben, da die Frage, ob man spielen kann oder nicht, einzig davon abhing, wie sich die Pandemie entwickelt. Ursprünglich wollten wir dann nur eine Aufführung von „Jedermann“ und ein Konzert machen, bis sich herausstellte, dass wir uns zutrauen, mehr zu machen.
Lassen Sie uns auf dem Weg auf den Mönchsberg noch über das diese Festspiele überschattende Virus sprechen. Dieses Jahr sollte ursprünglich ein außerordentliches werden, ein Festreigen zum 100er, der mit einem weiteren runden Ereignis zusammenfällt, nämlich 25 Jahre Helga Rabl-Stadler als Präsidentin der Festspiele. Bedrückt es Sie, dass dieses Jubiläumsjahr nun nicht den ursprünglich geplanten Glanz erhält?
Mich persönlich bedrückt das nicht. Aber allgemein bedrückt es mich sehr, dass Corona die Regie übernommen hat, in unser aller Alltag, privat wie beruflich. Ich bin ein Mensch, der wahnsinnig gerne unter Menschen ist, dass das jetzt plötzlich eine Bedrohung ist, die man vermeiden soll oder nur mit Maske oder Abstand absolvieren soll, ist ein totaler Einschnitt in mein Leben. Ich bin jemand, der sehr positiv in die Zukunft schaut, der Blick ist getrübt. Wir haben keine Ahnung, ob wir nächstes Jahr anders dastehen. Niemand garantiert uns, dass die Festspiele 2021 jene Festspiele sein werden, die wir die letzten Jahre gehabt haben.
Manche wollen diese Krise auch als Chance verstanden wissen.
Für mich ist Corona eine Gemeinheit und keine Chance. Mich hat befremdet, dass manche schwärmten, durch Corona endlich mehr lesen zu können und weniger fliegen zu müssen. Das sind schon sehr luxuriöse Probleme. Denn ich bin der Überzeugung, dass wir die negativen wirtschaftlichen und bildungspolitischen Folgen in ihrer ganzen Dimension noch gar nicht wirklich begriffen haben.
Wir können hier vom Mönchsberg aus das alte erzbischöfliche Salzburg in seiner ganzen Pracht sehen. Von oben noch immer ein gleißendes Juwel, unten aber bröckelt es. Selbst in der Getreidegasse, wo sich sonst Touristen stauten, lässt es sich nun angenehm promenieren und stehen Geschäftslokale leer.
Salzburg wurde von einem Tag auf den anderen Tag, von einem Problem in das andere geschleudert. Zuerst litten wir unter Übertourismus, dann wurde Salzburg zur Geisterstadt. Als wir uns entschlossen, zu spielen, ging ein Aufatmen durch die Stadt. Die Festspiele sind auch eine Wirtschaftskraft, von ihrer Gründung an.
Diesmal scheinen die Festspiele als Wirtschaftsturbo auszulassen. Ein Gutteil der früheren, finanziell potenten Gäste kann nicht kommen.
Es ist nicht wie sonst. Aber wir geben ein wichtiges Zeichen, es sind die Festspiele der Hoffnung. Es schauen alle auf uns, weil sie wissen möchten, wie das geht. Es ist wichtig, dass uns das gelingt, für alle Theater und Opern, die im Herbst aufsperren.
Sie wiesen immer wieder darauf hin, Kultur sei ein Nahrungsmittel der Seele. Ist die Seele derzeit auf Zwangsdiät?
Ich habe immer Reinhardt zitiert, mit Kunst als Lebensmittel. Ich finde den Satz, die Seele ist auf Diät, sehr schön. Es heißt schon bei Shakespeare: Wenn Musik der Seele Nahrung ist ... Diese Nahrung fehlt uns sehr.
Spazierengehen kam dafür in Mode. Wie halten Sie es damit?
Ich gehe viel am Mönchsberg. Eigentlich bin ich unsportlich, gehe nur, weil man weiß, Bewegung ist gut fürs Gehirn. Sonst würde ich nur vom Bett zum Esstisch, zum Schreibtisch und wieder zurück gehen und die Zeit zum Lesen nützen. Der Gedanke, im Alter zu verblöden, ist aber erschreckend und überwindet die Gehfaulheit.
Wie halten Sie es persönlich mit Salzburg? Begeistert ohne Vorbehalte?
Hans Weigel schrieb: „Wer Salzburg kennt, mit dem werden es andere Städte schwer haben.“ Ich bin eine begeisterte Salzburgerin.
Was ist für Sie das Geheimnis dieser Stadt?
Das Verschmelzen von Landschaft und Kultur. Diese Architektur, Salzburg wurde von italienischen Architekten mitgebaut, unter Erzbischöfen, die zum Teil auch aus Italien kamen. Und trotzdem bekam Salzburg von Wolfgang Amadeus Mozart oder später Thomas Bernhard keine gute Nachrede. Ich verstehe, wenn man sich gegen die Enge der Kleinstadt auflehnt. Beide hatten viele Gründe, sich Salzburg schlechtzureden.
Auch Intendanten, wie Gerard Mortier, fanden Salzburg oft nicht schön. Sie sind nun seit 25 Jahren Präsidentin dieser Festspiele, war es für Sie immer schön?
Es war wunderbar, ein Viertel der Zeit der Festspiele mitgestalten zu dürfen. Zuerst schlugen mir Neid und Ablehnung entgegen, die Anerkennung wuchs mit den Jahren. Bei Mortier war es oft schwer erträglich, beim Aufschlagen der Zeitung Angst haben zu müssen, ob er diesmal mich oder einen Künstler beschimpft. Da Intendanten wechseln, wurde ich zum Gesicht der Festspiele.
Wir sind vom Berg wieder in der Ebene angekommen, am Franz-Josef-Kai an der Salzach.
Wir gehen zum Makartsteg, gesäumt von Festspielplakaten, die internationale Künstler wie Anselm Kiefer oder Eva Schlegel zum Jubiläum schufen. Nachempfunden dem Zitat des Komponisten Luigi Nono: „Das Ohr aufwecken, die Augen, das menschliche Denken.“ Diese Worte beschreiben die bedeutende Funktion unserer Festspiele – Augen, Ohren und Denken aufzuwecken. Das ist unsere Aufgabe.
Kann es sein, dass die Festspiele in diesem Jahr zwar nicht an der Oberfläche so glänzen, aber dafür mehr an Tiefe gewinnen, mehr aufwecken?
Denken wir an den „Jedermann“, wo Atheisten und Agnostiker in den Bann eines Stückes mit religiösem Inhalt gezogen werden. Unsere von der Pandemie geschüttelte Seele packt es heuer noch mehr. Und Salzburg wird mit der Neunten Sinfonie von Ludwig van Beethoven der ganzen Welt einen Kuss geben. Übrigens, hier haben wir das Landestheater, einen Bau von Hermann Helmer und Ferdinand Fellner. 1893 spielte hier Max Reinhardt in einer Saison 50 verschiedene Rollen, besonders gut war der damals 20-Jährige als alter Mann. Damals verliebte er sich in Salzburg und machte später, trotz Angeboten anderer Städte, die Festspiele in Salzburg. Festspiele müssten, sagte er, weit entfernt von den Zerstreuungen der Großstadt stattfinden. Es gibt schöne Konzerte in Paris oder London, aber sie werden nicht so mit offenem Herzen und ganzer Seele aufgenommen wie hier in Salzburg.
Weil hier rechts am Makartplatz das einstige Wohnhaus der Familie Mozart steht: Wäre das heutige Salzburg ohne Mozart denkbar?
Mozart ist ohne Salzburg nicht denkbar. Doch Mozart schrieb seine großen Werke auch anderswo. Die Wurzeln kamen aus Salzburg, wo schon vor Mozart viel Musik war, man denke an Heinrich Ignaz Biber.
Ein anderer Meister baute die Kirche vor uns, die Dreifaltigkeitskirche.
Der Architekt Johann Bernhard Fischer von Erlach baute die Dreifaltigkeitskirche zur selben Zeit wie die Felsenreitschule und die Kollegienkirche. In dieser Kirche hatte ich meine Erstkommunion, die in besonderer Erinnerung bleibt. Ich zündete mit meiner Kerze den Schleier des vor mir sitzenden Mädchens an und bekam vor Aufregung Nasenbluten. Deshalb gibt es von meiner Erstkommunion keine Bilder, weil mein weißes Kleid blutverschmiert war. Ich hatte immer schon etwas Theatralisches.
Sie führen uns zum Friedhof Sankt Sebastian, was macht ihn so besonders?
Das ist so etwas Schönes, eine Ruhe und Geschlossenheit. Nikolaus Harnoncourt liebte ihn sehr, stachelte mich an, darauf zu schauen, dass die Stadt mehr dafür tut, den Friedhof wieder in einen ordentlichen Zustand zu bringen. Bis 2014 war er für Begräbnisse gesperrt. Wie sagte der damalige Dompfarrer: „Auf einem Friedhof muss gestorben werden, damit er lebendig bleibt.“ Hier liegen Vater und Frau von Wolfgang Amadeus Mozart begraben.
Auch Sie wollen hier Ihre letzte Ruhestätte finden?
Nein, ich kaufe mir ein Grab auf dem Friedhof St. Peter, wegen der Nähe zum Festspielhaus. Am Tag, an dem in Österreich der Lockdown verkündet wurde, war ich mit dem Erzabt auf dem Friedhof, um einen Platz für das Grab auszusuchen.
Wenn schon ein Abschied naht, dann der als Präsidentin der Festspiele. Wegen Corona wurde Ihre Funktion um ein Jahr verlängert. Wird 2021 tatsächlich Ihr letztes Jahr an der Spitze der Festspiele?
Ja, es ist eine Abrundung, ich habe dann 27 Saisonen hinter mir. Man soll schließlich aufhören, wenn es die Menschen noch bedauern.
Ihre schönste Saison?
2006, das Mozart-Jahr, mit 22 Mozart-Opern, das war eine besondere Stimmung. Doch irgendwie ist jedes Jahr das schönste.
Wird das auch diesmal so sein?
Ich hoffe es. Wir haben auf alle Fälle ein Programm, das auch in Nicht-Corona-Zeiten den Festspielen alle Ehre machen würde.