Kammermusik statt Opernpremierenrummel, 14 Musiker, Dirigent Christian Thielemann und eine Handvoll Mikros in der Villa Wahnfried: Ein kärgliches Rundfunkkonzert ersetzte letztes Wochenende die obligate Gala-Eröffnung der Richard-Wagner-Festspiele in Bayreuth.
Radio- und TV-Übertragungen, Streaming, Drive-in-Events: So also sieht Festivalgeschehen im Coronajahr 2020 aus. Wenn es überhaupt stattfindet – siehe den Absagenhagel der großen sommerlichen Klassikfestivals von Bregenz bis Baden-Baden, von Glyndebourne bis Savonlinna.
Das Mutterschiff hat die Segel nicht gestrichen: Die Salzburger Festspiele finden statt. Wenn auch deutlich bescheidener als ursprünglich für das Jubiläumsjahr geplant. 200 Aufführungen in 44 Tagen sollten es zum 100. Geburtstag sein. Darunter zehn Opernproduktionen (mehr, als ein durchschnittliches Opernhaus pro Saison schafft) und sechs Schauspielinszenierungen. Geworden sind es: 110 Aufführungen in 30 Tagen, darunter zwei Opern- und drei Schauspielproduktionen. 76.000 statt 230.000 Karten. Und trotzdem ist schon dieses reduzierte Programm ein Triumph: Die Festspiele gibt es, trotz Corona. Nun eben mit Sitzplatzbeschränkungen, Maskenpflicht, Tracing-Programm. So sieht es das Präventionskonzept angesichts der Katastrophenvision eines Covid-Ausbruchs vor.
„Wir tun alles, was in unserer Macht steht. Ein Restrisiko wird übrig bleiben“, konzediert der kaufmännische Direktor des Festivals, Lukas Crepaz. Man sei „natürlich bis zum 30. August angespannt“. Tatsächlich wäre schon ein einziger Coronafall auf der Bühne oder im Orchestergraben potenziell ruinös. Nicht nur, weil er nach dem organisatorischen Kraftakt der Neuprogrammierung doch noch zum Abbruch der Festspiele führen könnte. Sondern weil er, dank der Hypotheken von Ischgl und St. Wolfgang, auch als nächster Nachweis österreichischer Verantwortungslosigkeit im Umgang mit seinen Gästen gälte.
Und nicht zuletzt, weil Salzburg bedeutend genug ist, dass ein Pandemiedesaster tatsächlich Auswirkungen aufs internationale Festivalgeschehen haben könnte: Welcher Veranstalter soll sich denn an den Start trauen, wenn ausgerechnet der Schrittmacher strauchelt? Denn genau das ist Salzburg. Ganz ohne Regionalchauvinismus.
Kurzer Rückblick: In seiner 100-jährigen Geschichte ist das Festival erst zweimal abgesagt worden: 1924, als zum ersten Mal das Geld ausging, 1944, weil es Goebbels nach dem missglückten Attentat auf Hitler verbot. Das Wagnis 2020, das übermorgen seinen Auftakt nimmt, ist auch dem Salzburger Selbstbewusstsein als zumindest saisonalem Weltmittelpunkt der Kultur, als Künstlerhochburg und wichtigster Sommerdestination für den Kulturtourismus zu verdanken.
Das erste große Musikfestival waren die Festspiele nicht, dieser Titel gebührt Bayreuth. Aber bis heute ist Salzburg die Festspiel-Urschablone, deren Profil von Ravello bis Edinburgh kopiert worden ist: ein pittoresker Schauplatz mit (auch wenn nicht jeder Ort seinen eigenen Mozart hat) möglichst prächtiger musikalischer Vergangenheit, mit guten Hotels, feinen Restaurants und lohnenden Ausflugszielen. Idealerweise unweit großer Ballungsräume, aber nicht in den Metropolen selbst: Zu verdächtig schien deren „Zerstreuung bis zur Selbstauslöschung“ laut Hugo von Hofmannsthal, der gemeinsam mit Max Reinhardt und Richard Strauss zu den Gründervätern der Festspiele zählt.
Die waren bekanntlich von Beginn an als „Gesamtkunstwerk“ und damit auch auf Breitenwirkung angelegt. Die Festspiele als Fremdenverkehrszugpferd: ein zentraler Faktor in Salzburgs langer Erfolgsgeschichte. Laut einer 2016 publizierten Studie schaffen die Festspiele österreichweit 215 Millionen Wertschöpfung pro Jahr – das sichert 3400 Arbeitsplätze und dem Staat 77 Millionen Euro an Steuern und Abgaben. Im Vorjahr war das Festival zu 97 Prozent ausgelastet und erwirtschaftete bei 61,7 Millionen Euro Budget 31,2 Millionen aus dem Kartenverkauf.
Heuer ist natürlich alles anders: 68,8 Millionen Euro Budget waren für das Jubiläum geplant, das ist coronabedingt auf 41,6 Millionen gekürzt. Es gibt weniger Karten, weniger Programm, Sponsoringausfälle. Und all das betrifft nur das Festival selbst. Rundum knirschen Hotels, Restaurants, Caterer, Ausflugsveranstalter, Handel, Taxifahrer. Die Festspiele füttern die ganze Stadt. Auch daraus erklärt sich – neben ihrem glaubhaft glühenden Einsatz für die Künste –, warum Präsidentin Helga Rabl-Stadler und Intendant Markus Hinterhäuser hinter den Kulissen monatelang dafür gekurbelt haben, dass das Festival auch im Coronajahr stattfinden kann. Und das derart erfolgreich, dass die pünktliche Lockerung des Veranstaltungsregelwerks ab August in der Kulturszene alsbald als „Lex Salzburg“ gehandelt wurde.
Die Zwischenbilanz gibt den beiden recht: Auch wenn sich die 97 Prozent Auslastung der letzten Jahre heuer vielleicht nicht ausgehen, ist ein Großteil der aufgelegten Karten trotz verkürzter Vertriebsphase mittlerweile verkauft. Man fährt eben, auch wenn die Monopolstellung längst Geschichte ist, nach Salzburg. Ja, auch die Premierenschickeria, der Geldadel, die Regierungsspitzen. Kaum ein Kanzler der letzten Jahrzehnte hat es sich geleistet, die Festspiele auszulassen: Das Gesellschaftsevent als Politbühne und Geschäftsanbahnungsplattform, da war Salzburg schon immer der bessere Opernball.
Und letztlich geht es ja doch um Weltkunst. Und damit um 100 Jahre zwischen Innovation und Restauration. Um die Frage also, warum uns der „Jedermann“ noch immer etwas zu erzählen hat, und darum, ob der jahrzehntelange Geniekult um Karajan zu einer künstlerischen Dürrephase führte, ob Teodor Currentzis der Neuerfinder oder ein Schänder der Klassik ist, ob ein Reformator wie Mortier oder ein Zirkusdirektor wie Pereira nötig waren. Und ab Samstag wieder darum, ob es für den neuen Handke noch Karten gibt, wie die Netrebko gesungen hat und ob man zu den Berliner oder den Wiener Philharmonikern geht. Kunst als Großereignis. Hier haben sie das erfunden. Schon deswegen muss Salzburg sein.
Ute Baumhackl