Wie kommt das Neue in die Welt? Das wirklich Neue, woher kommen neue Ideen, das Neue, das nicht in irgendeiner Weise vorbestimmt ist? Max Planck (...) widmete sich einer anscheinend banalen Fragestellung: Wie ist die Farbe glühender Körper zu erklären? Er konnte dies 1900 erklären, als er sich, wie er schreibt, zu einem „Akt der Verzweiflung“ zwang: Er musste annehmen, dass es Ereignisse gibt, die keinen erklärbaren Grund haben. Dass die Welt nicht kontinuierlich ist, sondern dass es unteilbare, heute Quanten genannte Einheiten gibt. Und plötzlich wird die Zukunft offener als sie es vorher nach dem Bild der klassischen Physik war. (...)
Ist Wahrheit eine Frage der Mehrheit? Einstein hat dazu 1905 die sogenannte Hypothese der Lichtquanten aufgestellt –Licht, das aus kleinsten Teilchen besteht, die wir heute Photonen nennen. (...) 1913 wurde er an die Preußische Akademie der Wissenschaften in Berlin berufen. In der Befürwortung durch drei Nobelpreisträger hieß es: Man solle ihn berufen, obwohl er teilweise über das Ziel hinausgeschossen hätte, nämlich in seiner Hypothese der Lichtquanten. (...) Damals war die wissenschaftliche Mehrheit fast ausschließlich der Auffassung, dass das Unsinn war. 1922 erhielt Einstein dafür den Nobelpreis der Physik. Und das ist an den Naturwissenschaften so fantastisch: dass eine ganze Community, wo die Mehrheit einer Meinung ist, plötzlich umschalten kann – nicht aufgrund irgendwelcher Gefühlsentscheidungen, sondern, weil das Experiment sagt: So ist es und nicht anders.
Hanebüchene Begründungen für große Ideen
Die Frage für mich, die mich immer schon fasziniert und die natürlich die Künste genauso betrifft: Was ist Kreativität? Kreativität ist offenbar etwas, das unbewusst abläuft und in dem Moment, wo es geschieht, nicht in irgendeiner Weise logisch begründbar ist. Ich habe es oft erlebt, dass wir – meine akademischen Lehrer, meine akademischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – Ideen hatten, von denen wir begeistert waren, wo aber die Begründung, die wir da angeführt haben, am Anfang vollkommen hanebüchen und katastrophal falsch war. Es hat sich aber herausgestellt: Die Idee war oft richtig. Und das ist für mich ein großes Wunder. Wie gibt es das? Im Nachhinein konnte man immer erklären, warum das funktioniert. (…) Wir haben zum Glück, wie ich gesagt habe, die ultimative Richterin: die Natur, das Experiment – und das ist das Wunderschöne an den Naturwissenschaften.
Ich möchte in diesem Zusammenhang auf junge Menschen zu sprechen kommen. Ich habe sehr oft beobachtet, dass Kinder genuin begeistert sind von Wissenschaft und von Kunst. Die wesentliche Herausforderung für mich ist nicht, wie oft gesagt wird, Begeisterung zu wecken, sondern diese Begeisterung zu erhalten. In meinen Augen bedeutet das heute mehr persönliche Interaktion und weniger Computereinsatz auch in den Schulen. Mit kurzen Messages kann man nicht den nötigen tiefen Diskurs führen. In Covid-Zeiten war es sicher wichtig, dieses Medium zu nutzen. Aber jetzt könnten wir es, glaube ich, ein wenig zurückfahren. (...)
Von Vernunft wurde schon gesprochen, von der Aufklärung. Ich möchte das Original zitieren, Immanuel Kant. Darum geht es: Die Maxime, jederzeit selbst zu denken, das ist die Aufklärung. Oder, wie er so schön sagt: „Sapere aude – habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.“ Und ich habe das Gefühl, dass Vernunft heute vielleicht eine gefährdete Spezies ist. Wir haben in unseren liberalen Gesellschaften – auch eine Konsequenz der Aufklärung – Gesetze, Regelwerke, die für alle gleich sind. Nur schießen wir gelegentlich über das Ziel hinaus. (...) Nicht alles, was den rechtlichen Regeln nach möglich ist, ist moralisch und ethisch verantwortbar. Ich zitiere hier Bertrand Russell: „Die moderne Menschheit hat zwei Arten von Moral: eine, die sie predigt, aber nicht anwendet, und eine, die sie anwendet, aber nicht predigt.“
Ohne Vernunft ziehen wir sicher den Boden unter unseren Füßen weg. Wenn wir uns nur auf das Faktische beziehen, laufen wir Gefahr, in die Banalität zu laufen. Ist Wissenschaft absolut gesichertes Wissen? Immer und überall? Die Antwort muss natürlich sein: Es kann immer neue Erkenntnisse geben. Selbst große Konzepte wurden durch Besseres, Tieferes verändert. Aber deshalb darf man nicht gegenüber der Wissenschaft skeptisch sein oder die Wissenschaft ablehnen. Ich darf die Medizin erwähnen: Ohne die moderne Medizin, die im Wesentlichen naturwissenschaftlich begründet ist, wäre – und das ist eine harte Aussage – ein Großteil der hier Anwesenden, mich eingeschlossen, heute nicht am Leben. In diesem Sinne ein Appell: Ich appelliere, die Möglichkeiten der genetischen Verbesserungen nicht auszuschließen. Die neuesten Methoden wie etwa CRISPR/Cas und Ähnliches geben uns die Chance, Krankheiten individuell gezielt zu bekämpfen. In einer Weise, wie es bisher noch nicht möglich war. (...)
Wie weit ist Zukunft vorhersagbar, vorhersehbar? Ich darf kurz auf meinen Nobelpreis eingehen. 1988 habe ich gesehen, wie fantastisch die Verschränkung sein muss, der nicht-lokale Zusammenhang von Dingen. Und mich entschlossen, mein Forschungsgebiet komplett zu ändern. (...) Damals hatte ich kein klares Ziel vor Augen, und es war überhaupt nicht klar, mit welchen Methoden das Ziel erreicht werden kann. Es hat 10 Jahre gedauert, bis wir die sogenannte Vielteilchenverschränkung im Experiment realisieren konnten. Hätte ich damals schon – wie es heute leider auf österreichischer und auf europäischer Ebene immer häufiger gefordert wird – ein klares Ziel und die Methoden angeben müssen, hätte ich niemals den Nobelpreis bekommen. (...)
Der nächste offenkundige Schritt ist zu wenig
Es geht darum, das Ungewöhnliche zu finden, für das Unvorhersehbare offen zu sein. Es geht nicht um den nächsten Schritt, den man definieren kann. Der nächste offenkundige Schritt ist zu wenig. Ich habe den Eindruck, das die Förderungsmechanismen immer stärker in Richtung Praxis oder Innovation laufen und Gefahr besteht, die Grundlagenforschung weniger zu finanzieren. Das ist erstens schade, weil Grundlagenforschung zur menschlichen Neugier gehört. Und zweitens: Ohne Grundlagenforschung würde es keine Innovationen geben. (…)
Ein wichtiger Punkt ist mir hier die internationale Kooperation. Ich kann nicht nachvollziehen, dass man jetzt in Kunst und Wissenschaft die Kooperation mit Individuen in Ländern wie Russland und China nur deshalb abbricht, weil sie Regimes haben, deren Positionen wir nicht teilen. Im Gegenteil: In Wissenschaft und Kunst war internationale Kooperation immer schon eine Brücke zwischen Systemen. So soll es auch in Zukunft sein. Die offenen Denkweisen, die wir benötigen, sind systemübergreifend.