Die Handys sind so groß wie Ziegelsteine, Ronald Reagan ist US-Präsident, in der Ozonschicht klafft ein Loch, Korruption grassiert und eine neue Krankheit löst Panik aus: Aids.
In „Engel in Amerika“ zeichnete Tony Kushner Anfang der 1990er ein epochales Bild von einem von Verlust, Angst und Tod geprägtem Land. Er skizzierte die 1980er mit Aids, Diskriminierung und Stigmatisierung Homosexueller. Mit der Beschreibung von Machtdemonstration einerseits und Machtlosigkeit andererseits zementierte er damit ein Sittengemälde der Ära Reagan.
Daniel Kramers Inszenierung von Teil eins „Die Jahrtausendwende naht“ verharrt 30 Jahre später im Blick zurück – und verblasst dabei. Starke Szenen über Homophobie und Rassismus, bei denen es ins Eingemachte geht, haben Seltenheitswert. Der US-Regisseur setzt auf Show und fantastisch schrille Kostüme (Shalva Nikvashvili) wie auf ein doppelköpfiges „Sterbender Schwan“-Kleid sowie auf eine Bühne mit einem riesigen rosa Virus, das immer mehr Raum einnimmt.
Der Tod ist stets präsent. Särge stapeln sich trostlos auf der Bühne (Annette Murschetz). Sie werden zu Betten, Synagogenbänken oder aufklappbaren Bars umfunktioniert. Parallele Handlungsstränge berichten von der Aids-infizierten Gesellschaft, erkennbar an roten Dreiecken an den Körpern – in Anlehnung an die rosa Winkel in den KZs. Prior (Patrick Güldenberg) ist einer von ihnen, er wird von seinem Partner Louis (Nils Strunk) verlassen. Der Anwalt und Mormone Joe (Felix Rech) versteckt sein Schwulsein vor seiner tablettenabhängigen Frau (Annamaria Láng) und seiner Mutter (glänzt auch als Rabbi, Arzt: Barbara Petritsch). Der korrupte, schwule Anwalt und Kommunisten-Denunzierer Cohn (Markus Scheumann) protegiert ihn. Bless Amada hat als frühere Drag Queen und imaginärer Freund prägnante Auftritte, Safira Robens hätte man als Engel in diversen göttlichen Erscheinungen noch gerne länger zugesehen.
Bei aller Schwammigkeit und Sprunghaftigkeit bleibt die Ensemble-Leistung konstant hoch: Felix Rech verkörpert den zwischen Konventionen zerrissenen Joe bravourös, Markus Scheumann trumpft als machtbesessener Patriarch auf.
Am Ende schließt sich ein Regenbogenvorhang. Ein buntes Ensemble voller queerer Bühnenfiguren und auffälliger Drag-Kostüme verneigt sich vor dem Publikum. Ein schönes, von viel Beifall bedachtes Bild. Eines, das nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass dem Engel hier die Fantasie-Flügel gestutzt wurden.