Es müssen schreckliche Momente der Ungewissheit für eine Sängerin sein: Vor dem Opernhaus machte am Montag Abend eine kleine Gruppe von Demonstranten mit scharfen Karikaturen deutlich, dass sie die Diva vor allem für eine Propagandistin Putins halten. Ein Bild zeigte Anna Netrebko in Sängerpose, aus ihrem Mund aber kommen Patronen, keine Töne. Wie würde das Publikum im Saal sie wohl empfangen nach der langen Pause und den Vorwürfen der zu großen Nähe zum kriegführenden russischen Präsidenten?
Mimìs erster Auftritt ist ein intimer, leiser Moment in der Oper. Die Tür geht auf und die tuberkulöse, schüchterne Näherin tritt in den Raum. Und tatsächlich schreien in diesem Moment ein paar Besucher ihr Missfallen über den Auftritt der Sängerin in den Saal, überflügelt allerdings von der Begeisterung derer, die ihretwegen gekommen waren. Die Musiker spielen weiter, als wäre nichts gewesen.
Es war ein bewegender Abend in vertrauten Bildern. Nach Momenten der spürbaren Irritation fand die Netrebko bald zu ihrer Ausdruckskraft und leuchtenden Intensität zurück. Je mehr die Krankheit an Mimì zehrte, desto inniger fühlte sie sich in die Rolle der Sterbenden ein und riss ihre Partner mit. Vittorio Grigolo steigerte sich nach allzu robusten Anfängen zu einem ebenbürtigen Rodolfo und Bertrand de Billy ließ im letzten Akt auch Puccinis tränentreibende Musik ungehindert strömen. Ein umjubeltes Fest für die Diva, das Ende ihrer Quarantäne in Wien, und ein verheißungsvoller Auftakt für die Saison der Staatsoper.
Thomas Götz