"Frankfurter Allgemeine Zeitung"

"Dieser Jedermann stirbt zweimal: einmal als Mann und einmal als Mensch. (...) Man sieht einen in seinen Standesfesten erschütterten Mann, der sich bei jedem Schritt nach Bestrafung für seine patriarchalischen Auftritte sehnt, einer, dem seine eigenen Manneskräfte zuwider sind, schon lange bevor die Glocken läuten und er von der Festtafel abberufen wird. Kein joviales Röhren, kein angeberisches Brust raus ist hier zu sehen - dieser Mann weiß von Beginn an, dass er von Frauenhand fallen muss. Seine Buhlschaft, die von der jungen, quirligen Salzburgerin Verena Altenberger unbefangen und aufmüpfig gespielt wird, hat ihn in der Hand, umarmt, herzt und küsst ihn, als wäre er eine liebesbedürftige Puppe. Aber schon wenig später schlägt ihm der Tod mit voller Wucht die Faust vor die Brust. Mit ihm, der in der majestätischen, Gehorsam gebietenden Gestalt von Edith Clever auftritt, erlebt der Abend eine eindrucksvolle Zäsur. Denn von nun an sind die Geschlechterfragen beiseitegekehrt wie ein Haufen feuchtes Laub. Von nun an geht es nicht mehr um den Mann, sondern um den Menschen. (...) Wie von den Bürden der sexuellen Selbstbefragung befreit, kann sich Eidingers Jedermann im zweiten Teil ganz auf die Schwere seiner Existenz konzentrieren. Kann sich selbst ernst nehmen und seine identitäre Befangenheit ablegen: Jetzt, im Moment des drohenden Abschieds, nimmt dieser Jedermann eine geradezu heroische Haltung ein."

"Süddeutsche Zeitung"

"Mit verblüffender Selbstsicherheit tritt die neue Buhlschaft Verena Altenberger ins Bild, und eigentlich ist sie es auch, die sich hier als Herrin der Geldsäcke und Immobilien präsentiert, zu Jedermanns Monolog über das schöne Luxusleben bewegt sie synchron die Lippen. Klar, wer hier die Hosen anhat und ein Interesse daran, dass die Armen bloß nicht übermütig werden; die von Jedermann eingeforderte Mildtätigkeit muss auf ein Minimum begrenzt werden, damit das kapitalistische Oben-Unten-Schema nicht aus den Fugen gerät. So weiblich war der "Jedermann" noch nie, mit Mavie Hörbiger in der Doppelrolle als Gott und Teufel, Angela Winkler als Jedermanns Mutter, Edith Clever als Tod und Kathleen Morgeneyer als Glaube dominieren die Frauen das Geschehen. Und dann darf mit Verena Altenberger die erste Salzburgerin in der Festspielgeschichte überhaupt die Buhlschaft spielen. 'Männlich dominante Denkmuster' will Sturminger aufbrechen, deshalb sind einige Figuren fast schon penetrant genderfluid, die Männer stöckeln mit hohen Absätzen lustvoll herum, während die Frauen über Leben und Tod entscheiden. Lars Eidinger ist klug genug, sich nicht völlig dem Spektakel hinzugeben und gelegentlich auf die Bremse zu steigen. Allerdings ist sein Jedermann anfangs bedrohlich nahe an der Farce: Wie ein nicht mehr ganz junger Glam-Rocker jagt er in einer senfgelben Schlaghose über die Bühne, immer auf der Suche nach dem nächsten Kick, dem nächsten Opfer."

"Neue Zürcher Zeitung"

"Die Corona-Einschränkungen sind kaum spürbar: Das Salzburger Modell, das die Festspiele schon im vergangenen Jahr nur mässig eingeschränkt ermöglichte, hat sich längst eingespielt. Im Saal gelten keinerlei Abstandsregeln mehr, die Masken fallen von den Gesichtern. Und so sieht man, dass diese ernst bleiben. Denn selten nur gibt es in Michael Sturmingers Neuinszenierung Grund, die Miene zu einem Lächeln zu verziehen. Kaum ein Verschnaufen und Schwelgen in ausgelassenen Bilderreigen, das üppig Barocke bröckelt, und übrig bleibt eine triste, ärmlich dekorierte Szenerie wie am Abend kurz vor dem Weltuntergang. Selten also war ein 'Jedermann' so verbissen darauf angelegt, die Moll-Stimmung bis zum letzten Atemzug des armen reichen Mannes konsequent aufrechtzuerhalten. Da liegt er dann in den Armen des Todes: ein Bild von einer Pietà, so ergreifend wie eins zu eins abgekupfert von Michelangelo. Keine Fallhöhen mehr in dieser Deutung. Lars Eidinger als neuer Jedermann kommt schon als Verlorener auf die Bühne. In roten Unterhosen mag ihn das Leben nicht mehr freuen, Protz und Prunk sind seine Sache nicht, den Reichtum schleppt er widerwillig in einem Blecheimer mit herum, als käme er vom Kohlenholen. Und Eidinger, der so wunderbar mit und in Shakespeares Sprache leben kann, mit den Wörtern tanzt, sich die Sätze auch körperlich untertan macht, ohne deren Sinn zu verbergen, scheint von den Hofmannsthalschen Versen wie geknebelt. Er findet keinen Ausweg aus dem Reimzwang, das Knittelige und Holprige hemmt den ganzen Schauspieler, der sich schliesslich ergibt und im nur noch traurigen, weinerlichen Tonfall den Jammermann zeigt."

"Abendzeitung"

"Der deutsche Besucher, der sich an halbleer geräumte Theater mit Beinfreiheit im Business-Class-Format fast schon gewöhnt hat, staunt zudem über die Entspanntheit der Festivalleitung bei der Seuchenprävention. Nicht nur bleibt es den Zuschauern überlassen, einen Mundschutz zu tragen oder es sein zu lassen, auch die 2177 Plätze werden vollständig besetzt. Auf der überbreiten Bühne erinnert nur die Verhandlung zwischen Jedermann und dem Tod an die Abstandsregeln. Sie sitzen sich weit entfernt an den äußeren Enden der langen Tafel, an der zuvor Jedermanns Entourage ihre Party gefeiert hatte." - "Dabei ist der Superreiche, wenn Lars Eidinger ihn spielt, kein so übler Kerl. Wenn er Bittsteller abbügelt, ist er kein Ekel und wenn er zu exklusiven Festgelagen einlädt, scheint er erstaunlich geerdet zu sein - er nimmt die Idee von 'jedem Mann' sehr ernst. Das kostet das Spektakel des Exklusiven und des Exzessiven, schafft aber eine Vielschichtigkeit, die die Figur nicht von sich aus hat. Das gilt auch für die Buhlschaft: Verena Altenberger ist anders als ihre Vorgängerinnen. Das beginnt bei der Kurzhaarfrisur, die schon im Vorfeld zu Debatten geführt hatte, und endet nicht beim libidoroten Hosenanzug. Im Rahmen der Möglichkeiten, die ihr Hofmannsthal gelassen hat, ist sie eine selbstbestimmte junge Frau mit einer Frisur, die sich von 100-jährigen Klischees der Weiblichkeit verabschiedet."

"Der Standard"

Es ist die Buhlschaft, die Jedermanns erste Worte spricht. Aufrecht thront sie auf den Schultern ihres Geliebten, sein Gesicht hat er in ihrem Schoß versteckt: "Ein köstlich Frühmahl befehl ich an", ruft sie dem Koch zu. Wer in dieser Beziehung die Hosen anhat, daran lässt diese Frau keinen Zweifel. Sie trägt einen knallroten Hosenanzug, ihr Jedermann ist bis auf eine schlabbrige Unterhose nackt. Als Tobias Moretti vor nunmehr fünf Jahren die Rolle des reichen Mannes auf dem Salzburger Domplatz übernahm, musste innerhalb kurzer Zeit das gesamte Regieteam ausgetauscht werden. Michael Sturminger übernahm und stellte eine mehr als solide Fassung auf die Beine. Im heurigen Jahr gibt Lars Eidinger zum ersten Mal den Jedermann, und wieder ist es der Hauptdarsteller, der den Anstoß zu einer Neuinszenierung gibt.

In Sturmingers Moretti-Inszenierung hätte Eidinger beim besten Willen nicht gepasst. Also musste eine Sturminger-Inszenierung für Eidinger her: eine modernere, weiblichere, weniger betuliche Fassung dieses nicht gerade für seine Gegenwärtigkeit bekannten Stückes. Über viele Jahre musste man den Jedermann für einen Anachronismus halten, gefangen in einer Folklore, die die Festspiele ansonsten längst auf den Prüfstein gestellt hatten. Mit Sturmingers Eidinger-Inszenierung ist jetzt auch der Jedermann stärker in der Gegenwart angekommen.

"Wiener Zeitung"

Wer hat die Hosen an im Hause Jedermann? Hugo von Hofmannsthal täte uns den Lebemann als erstes im Dialog mit dem Koch vorführen. Das Menü für die Tischgesellschaft kann ja gar nicht erlesen genug sein.
Bei den Salzburger Festspielen nutzt Regisseur Michael Sturminger die Szene, um gleich mal die Buhlschaft einzuführen. Sie sitzt auf Jedermanns Schultern, das Kleid verdeckt dessen Gesicht – und sie ist es, die den Essensplan vorgibt. Nicht unehrgeizig also, Hofmannsthals Text getreu durchzustelzen und trotzdem das Zeitlose darin herausarbeiten zu wollen. Das geht gut mit dem neuen Jedermann, mit Lars Eidinger. Dem nimmt man die Rolle als Ich-AG mit prall-gottlosem Hedonismus voll ab. Und weil er ja beileibe kein Prasser von der traurigen Gestalt ist, rennen Armer Nachbar und Schuldknecht schier hoffnungslos an gegen den Hünen. Auch später wird er die allegorischen Figuren, die sich seinem Weg ins Jenseits entgegenstellen oder sein Katholisch-Werden befördern, immer wieder locker hops nehmen, vom Mammon bis zu den hier als größere Gruppe auftretenden, wiewohl schmächtigen Guten Werken. Von denen stemmt er sogar zwei zugleich hoch.

Sturmingers "Jedermann" ist ein Steinbruch mit ausreichend Ideen-Geröll. Das Fokussieren und Konzentrieren ist dieses Regisseurs Stärke auch diesmal nicht. Dass die Kostüme und die Musik für krass-postmoderne Verschnitte aus Barock und Gegenwart stehen, schafft Über-Zeitlichkeit, aber auch viel Durcheinander. Er sehe seine Arbeit als ein Work in progress, als eine "ewige Dombaustelle", wird Sturminger im Programmheft zitiert. Das ist legitim, gerade angesichts des Ikonischen, das dem Stück in Salzburg anhaftet.