Man könnte auch nur wegen des Orts kommen. Die Wiener Festwochen machen in der heurigen mehrgeteilten Ausgabe, das Jugendstiltheater beim Otto-Wagner-Spital auf der Baumgartner Höhe in Wien-Penzing wieder zugänglich. Einst als "Gesellschaftshaus" für Patientinnen und Patienten, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter errichtet, wurde es 2009 das letzte Mal bespielt. Von der Terrasse aus blickt man auf die 772 Leuchtstelen des "Mahnmals für die Opfer vom Spiegelgrund" für die Kinder und Jugendliche, die im NS-Euthanasieprogramm "Am Spiegelgrund" zwischen 1940 und 1945 ums Leben gekommen sind.
Drinnen erblickt man Fischgrätparkett, Luster, Fliesen, Stuck und Glastüren aus jener Zeit. Viele der Besucherinnen und Besucher von Philipp Gehmachers Performance "The Slowest Urgency" sind früher gekommen, um noch instagramtaugliche Bilder von einem Ort zu knipsen, dessen Zugang der Öffentlichkeit sonst verwehrt bleibt.
Schon der Titel klingt paradox: "The Slowest Urgency", also die langsamste Dringlichkeit, nennt sich die neue Arbeit Gehmachers. Die uraufgeführte Performance erforscht die praktizierte Dringlichkeit unseres Lebens sowie der Gesellschaft, die sich auf die Körper auswirkt. Eingebettet in eine furiose Sound-Landschaft von Peter Kutin voller Plätschern, Hämmern, Gluckern und bebender Bässe erwachen vier Performerinnen und Performer (Juan Pablo Camara, Roni Katz, Andrius Mulokas, Elizabeth Ward) eingangs langsam zum Leben. Ihre Arme, Beine und Rümpfe erzählen von einer Körper-Werdung, von einer Verortung in der Landschaft, von der Entdeckung der Gemeinsamkeit. Es ist, als "würden die Körper sich selbst entgegentreten. Gemeinsam selbstverloren", ist im Programmheft nachzulesen. In aller Doppeldeutigkeit. "Mein Arm sagt Ja und Nein zugleich", wird Gehmacher darin zitiert. Die Arme mutieren im Lauf des Abends zu Uhrzeigern oder Fragezeichen - eines der Markenzeichen des Wiener Tänzers, Choreografen und Künstlers.
Man muss sich eingangs auf diese Langsamkeit einlassen. Wer das schafft, wird in 90 Minuten mit einer soghaften, ästhetisch streng arrangierten Performance und von Körpern, die sich wie Streichinstrumente anspielungsreich durchs Jetzt verbiegen, belohnt. Diese Einzelkörper gehen mitunter verloren und wachsen schließlich wieder zusammen, als Roboter mit Stakkato-Bewegungen, als Pflanzen mit fließenden Moves oder als Individuen mit unverwechselbarem Takt. Ein Abend, der einen von allen Dringlichkeiten außerhalb des Theaterraums befreit. Kräftiger Beifall.
"The Slowest Urgency" von Philippe Gehmacher. Noch am 5. und 6. Juni, 20 Uhr, Jugendstiltheater, Steinhof, Klinik Penzing. Ingesamt finden fünf Produktionen an diesem Ort statt. www.wienerfestwochen.at