Sind Sie pandemiemüde?
TOBIAS MORETTI: Alle irgendwie. Aber ich bin ein Überlebenstier, und der Modus ist auf das Machbare und auf das Notwendige gerichtet. Nutzt ja nix.
In Paris haben Künstler aus Protest gegen die geschlossenen Bühnen ein stadtbekanntes Theater besetzt. Ist Ihnen auch danach zumute?
Wenn einem Künstler, der sein Leben mit Menschendarstellung verbracht hat, die Menschen genommen werden, zieht’s dir den Boden unter den Füßen weg. Dass das zu Ohnmacht und Wut bei Künstlern führt, ist nachvollziehbar. Dennoch: Was in meinem Verständnis Theatermacher, dramatische oder musikdramatische Menschen ausmacht, ist die intellektuelle Fähigkeit, in großen Bögen zu denken, Äpfel nicht mit Birnen zu verwechseln und Geschehnisse zu analysieren. In unserem Beruf beschäftigt man sich sein Leben lang mit Literatur, mit Geschichte, und dadurch ergibt sich die Reflexion über das Hier und Jetzt. Deswegen würde ich von einer halbwegs gebildeten Gesellschaft erwarten, dass wir Dinge einordnen können. Diesen Eindruck hat man derzeit nicht mehr. Die Pandemie ist nun einmal der Einschnitt, den wir nicht beeinflussen können, außer man negiert den Umstand –und die Folgen.
Was kommt einem abhanden, wenn man als Schauspieler aus dem Memorieren herausfällt und monatelang nicht auf der Bühne stehen kann, weil es kein Theater gibt?
Bei den meisten subventionierten Bühnen sieht es derzeit so aus, dass Produktionen einstudiert und nach der Generalprobe ins Kühlfach gelegt werden. Das ist ein furchtbarer Zustand. Trotzdem glaube ich, dass die Situation für Musiker, die ständig eine virtuose Korrespondenz abrufbar haben müssen, noch schwieriger ist. Ehrlicherweise muss ich sagen, dass ich von diesem Stillstand nicht in diesem Ausmaß betroffen bin, da ich im Moment in Drehvorbereitungen bin.
Sonst pendeln Sie zwischen Bühne und Bauernhof, jetzt haben Sie nur den Hof. Wie kommen Sie durch die Zeit?
Diese Situation hatten wir letztes Jahr nach dem ersten Lockdown. Wir hatten einen Arbeitskibbuz mit der eigenen Familie erweitert, es war Frühling, und wir hatten als Lebensmittelproduzenten jede Menge zu tun. Der Betrieb rennt da auf Hochtouren. Derzeit ist für mich diese Phase bis Ende Mai anberaumt, danach geht es in die Dreharbeiten.
Mit welchen Auflagen sind Sie konfrontiert? Der Set als abgedichtete Enklave?
Genau. Das ist der Vorteil der Branche. Wir sind gleichzeitig in einer Arbeits- und quasi Wohnquarantäne. In Verbindung mit ständigen Tests und den üblichen Auflagen ermöglicht das ein weitgehend normales Arbeiten am Set.
Sie bekommen im August in Bonn den Europäischen Kulturpreis 2021. Wo reiht er sich ein?
Wenn mich der bayerisch-fränkische Sonnenkönig Söder durchreisen lässt, werde ich nicht säumen, diesen Preis mit Freuden entgegenzunehmen.
Die Politik wirkte zuletzt nicht mehr wie ein souverän Handelnder, sondern wie ein Getriebener der aufgeladenen Stimmung. Teilen Sie den Eindruck?
Nach der ersten Welle hatte man den Eindruck, dass das Krisenmanagement ein vernünftiges war. Dass wir nach über einem Jahr immer noch in dieser Situation sind, hat niemand zu fürchten gewagt. Die Handelnden sind, wie Sie richtig sagen, einerseits Getriebene der aufgeladenen Stimmung, andererseits getrieben durch das Pandemiegeschehen selbst. Es gibt niemanden, der in deren Haut stecken möchte.
Sind wir in der Beurteilung zu gnadenlos?
Es gibt genug Cowboys, Stammtischpropheten oder Instagram-Besserwisser: „Wenn ich was zu sagen hätte“. Was würde sich ändern? Unabhängig von der totalen Isolation innerhalb Europas wären die Folgen drastisch. Wer verantwortet das? Medizinisch? Juristisch? In einer medialen Gesellschaft? Vielleicht wirkt die Politik auch nicht mehr souverän, weil sie sich zwar nach der Expertise von Fachleuten richtet, dann aber ein überbordendes Krisenmanagement von Beamten und Administratoren in vorauseilendem Gehorsam die wenigen verbliebenen Freiräume auch noch reglementiert. Das ist gefährlich. Andererseits: Wie würden Medien sich darauf stürzen, wenn man anders handelt? Der Revanchismus ist ja jetzt schon unappetitlich.
Zu spüren ist eine aggressive Gereiztheit. Sie entlädt sich auf den Straßen als Panoptikum von Wut und rabiater Wehklage. Was macht die Krise mit uns?
Eben. Man könnte es nicht besser beschreiben. Man hat den Eindruck, nur noch das Radikale und Extreme setzt sich durch, wie autonome Mikroorganismen, die man nicht mehr kontrollieren kann. Es prallen unterschiedliche Sichtweisen aufeinander, wie man gesellschaftlich füreinander verantwortlich ist, und das, was gestern selbstverständlich war, ist es heute nicht mehr. Das Perfide des Einzelnen, der Gesellschaft und der Welt überholt sich selbst. Auch diese Kompetenzen-Gleichmacherei von Social Media, dass jeder meint, er sei ein Experte für alles, vom Medizinischen bis zum Wirtschaftlichen. Das ist eine unglaubliche Macht der Manipulation; was hier als demokratisch wahrgenommen wird, ist eine Aushebelung der Demokratie.
Werden wir nach der Krise ein besseres, achtsameres Leben führen?
Wenn wir wollen, ja.
Hat die Krise das Tugendhafte aus dem Menschen herausgeschält oder schlechten Charakter?
Momentan erkenne ich wenig Tugend, wenig Weitblick und viel Befindlichkeit. Das trifft hauptsächlich auf die zu, die sich laut zu Wort melden. Die wahrhaft tugendhaften Menschen sind die, die täglich mehr als ihrer Pflicht nachkommen.
An wen denken Sie?
Im Freundeskreis kenne ich genug Menschen, die ich anführen könnte: eine junge Ärztin und zweifache Mutter, die ihre Kinder seit einem Jahr kaum sieht. Krankenschwestern, die zehn Stunden in einem „Voll-Kondom“ stecken, in dem man nach zehn Minuten nassgeschwitzt ist. Alle, die an der Front stehen. Und solche Leute haben einfach kein Verständnis für diese Maskenbefindlichkeiten und Testverweigerungspropheten und ihre primitiven Argumente. Oder gar Demonstranten, die ostentativ umarmend die Verschlechterung der Situation mitverantworten. Ein Arzt hat mir erzählt: Ich bin am Limit; wenn ich solche Demos von Verschwörungstheoretikern sehe, stelle ich zwar das Demonstrationsrecht nicht infrage, aber jeder von denen sollte vorher unterschreiben, dass er im Fall einer Infektion keine Intensivpflege in Anspruch nehmen wird.