Mit 1. September 2022 tritt die quirlige Lotte de Beer offiziell ihren Posten als neue Direktorin der Wiener Volksoper an. Dementsprechend ist die Niederländerin aber bereits jetzt vollends dabei, das Konzept für das Haus am Gürtel unter ihrer Ägide zu erarbeiten - eine Situation, in der Corona sogar gewisse Vorteile haben kann. Mit der APA sprach die 39-Jährige über das Führen ohne Machtworte, Pläne für eine zweite Spielstätte und Arbeiten ohne Genregrenzen.

Was war die erste Oper, die Sie gesehen haben?
LOTTE DE BEER:
Das war Rossinis "Il turco in Italia" in Lüttich. Ich kann mich zwar nicht an die Inszenierung erinnern, aber an die Geräusche im Zuschauerraum und das Orchester. Damals war ich sieben Jahre alt und wusste: Ich werde Sängerin.

Gehalten hat der Berufswunsch ja nicht....
Aber das war lange der Plan. Ich bin deshalb extra auf das Musikgymnasium in Maastricht gegangen, wo ich zunächst Klavier gelernt habe, bevor ich dann mit 16 Jahren endlich vorsingen durfte. Und es hat sich leider herausgestellt, dass ich keinerlei Begabung habe. Alle haben nach dem Vorsingen nur mein Kleid gelobt... Mit 17 Jahren habe ich dann entschieden, dass hier Wunsch und Wirklichkeit nicht übereinstimmen und als Plan B begonnen, Schauspielerei zu studieren.

Das war dann ja aber auch noch nicht der Weisheit letzter Schluss...
Ich war ein Jahr lang vollkommen unglücklich und bin wie ein verschrecktes Kaninchen im Scheinwerferlicht gestanden. Mein Erweckungserlebnis war dann, dass ich in einem Stück von der Seite bei der Inszenierung geholfen habe - und da hat mich ein Dozent auf die Idee gebracht, dass Regie vielleicht mein Beruf sein könnte. Ich habe dann ins Regiefach gewechselt, und das war wie ein Nachhausekommen. Und dabei hatte ich immer gedacht, ich wäre keine gute Führungspersönlichkeit, weil ich viel zu zurückhaltend bin.

Apropos Führungsstil. Wenn man mit Menschen spricht, die mit Ihnen bereits gearbeitet haben, ist das einhellige Urteil: Die ist ein unglaublich kluger, unheimlich sympathischer Mensch. Wie ist es Ihnen damit gelungen, Karriere zu machen?

Man muss mit dem arbeiten, was man hat. Mein Führungsstil ist das Inspirieren, Verführen, Unterstützen. Ich versuche, mit Liebe an die Sache heranzugehen. Das Machtwort ist nichts für mich. Ich kann das zwar versuchen, das wirkt dann aber immer lächerlich. Wir haben so eine Klischeevorstellung, wie Macht auszusehen hat. Man kann mit Angst zwar schneller Resultate erzielen, weil sich das Gegenüber nicht traut, Widerspruch zu äußern. Aber darunter leidet die Kreativität. Wenn man hingegen mit Liebe arbeitet, erreicht man viel mehr.

Sehen Sie sich hier Pars pro Toto als eine neue Generation an Theaterchefs?
Das Verhältnis Mann-Frau wird ausbalancierter und der Opernbetrieb allgemein demokratischer - und das ist eine gute Entwicklung. Ich weiß von Opernhäusern, die manch jungen Regisseur nicht einladen, weil sie meinen, dass sie das Geschrei und Machtgehabe vielleicht noch von ein paar älteren Kollegen akzeptieren, unter den Jungen aber nicht mehr haben wollen.

Dass es Sie nun an die Volksoper verschlagen hat, war beinahe etwas überraschend, haben Sie doch in Österreich bis dato primär am Theater an der Wien inszeniert.
Man hat mich bestellt, weil man wusste, dass ich eine neue Vision für die Volksoper mitbringe. Mir geht es um ein Musiktheater ohne Grenzen. Die Vorstellungen, die in den vergangenen zehn Jahren am meisten Eindruck auf mich gemacht haben, waren die, bei denen man sich gefragt hat, ob es jetzt Poesie, Musical oder doch Oper ist. Und seit zehn Jahren erzähle ich allen Intendanten, dass ich gerne einmal Musical oder Operette inszenieren würde - ohne Erfolg. Wenn man mal in einer Schublade drin ist, kommt man da nicht raus. Dabei ist das Opernhaus, das ich am meisten schätze, die Komische Oper von Barrie Kosky in Berlin. Wie man dort mit allen Sparten des Musiktheaters umgeht, ist großartig, und deshalb gibt es solch ein diverses, variantenreiches Publikum.

Werden Sie die quantitative Gewichtung zwischen Oper, Operette und Musical am Haus beibehalten?
Ich möchte das gar nicht dogmatisch angehen. Ich kann mir vorstellen, dass wir künftig weniger Musical machen als bisher. Aber letztlich möchte ich bei jeder Projektidee neu die Frage stellen, welche Aufführungstradition die beste ist, Grenzen können auch verschwinden.

Momentan werden Opern an der Volksoper in der Regel in der deutschen Fassung gesungen. Wollen Sie die Tradition fortführen?
Nein, aber auch hier bin ich nicht dogmatisch. Mittlerweile sind die Menschen gewohnt, Serien mit Untertiteln zu sehen. Ich möchte jedem der Regieteams mitgeben, dass gute Kommunikation mit dem Publikum wichtig ist - das kann vielleicht mittels einer Übersetzung sein, oder man lässt ein Werk im Original und macht den Inhalt deutlich, indem man dabei neue Wege geht.

Sie haben bei Ihrer Berufung beklagt, dass die Oper das junge Publikum verloren hat. Wie wollen Sie hier die Schwellenangst überwinden?
 In den Niederlanden sind wir etwa mit meiner damaligen Compagnie Operafront mit einer verkürzten "Traviata" auf ein Rockfestival gegangen - und den Leuten sind da die Tränen über die Wangen gelaufen. Man muss die Jungen erreichen, indem man entweder das Haus verlässt und zu ihnen geht, oder neue Formationen ins Haus holt. Es gibt da Tausende an Möglichkeiten, je nach Zielgruppe. Auch eine Familienoper am Sonntagvormittag, die nicht nur ein Projekt für Kinder, sondern für alle Familienmitglieder ein Spaß wie bei einem Pixar-Film ist, gehört dazu.

Gehört zu diesem Konzept eine zweite Spielstätte für die Volksoper?
Das wäre zumindest mein größter Traum - am besten im Stile eines Clubs, in dem man auch nach der Vorstellung gerne bleibt. Und im Idealfall können wir hier mit der Jugendarbeit und der Vermittlung gemeinsam eine Untermarke aufbauen, die das Experimentieren ermöglicht, Stadtteil- und Schulprojekte umsetzt. Aber das alles ist natürlich eine Frage des Geldes, weshalb es vielleicht nicht gleich in meiner ersten Spielzeit realisierbar sein wird.

Ihr Musikdirektor Omer Meir Wellber ist ja bereits ernannt. Wie kann man sich die Zusammenarbeit von Ihnen beiden vorstellen?
Omer und ich haben denselben Blick auf das Musiktheater. Das ist ein Ping-Pong-Spiel an Ideen zwischen uns. Natürlich vertraue ich ihm bei der Entwicklung des Orchesters und er mir bei der Auswahl bestimmter Darsteller und Teams. Aber bezüglich der Programmgestaltung versuchen wir eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe.

Zugleich steht das Kulturleben dank Corona seit einem Jahr praktisch still. Ist das für Sie in der Vorbereitung ein Vorteil oder eine Behinderung?
Ich habe einerseits mehr Zeit, weil ich nicht mehr ständig herumreise. Und ich erreiche die größten Regisseure und Dirigenten, die zu Hause sitzen und Zeit zur Reflexion haben, weshalb sie offen sind für neue, ungewöhnliche Projekte, auch wenn ich ihnen nicht gleich hohe Gage wie andere Häuser zahlen kann. Andererseits ist es von Nachteil, dass ich das ganze Repertoire hier nicht sehen kann, weil ja nicht gespielt werden kann.

Wie gehen Sie mit dem Thema Repertoire um? Ihr Kollege Bogdan Roscic bemüht sich, das Repertoire der Staatsoper möglichst schnell zu erneuern. Ist das auch Ihr Ziel?
Es gibt hier knapp 280 Vorstellungen pro Saison. Die kann ich nicht alle neu machen. Außerdem kennt das Publikum die Inszenierungen, was auch ein konstanter Faktor ist. Das ist ein guter Gegenpol zu den neuen Produktionen, bei denen ich den Teams wirklich künstlerische Freiheit lassen möchte, was natürlich immer auch ein Risiko ist. Der Wechsel wird bei uns also langsamer vonstattengehen.

Im Ensemble wird der Wechsel hingegen schneller passieren. Jüngst wurde bekannt, dass Sie zahlreiche der Mitglieder nicht übernehmen werden.
Menschlich ist das schrecklich für mich, solche Entscheidungen sind nie einfach. Aber ich soll ein Haus künstlerisch in die Zukunft führen. Das bedeutet für mich auch eine neue Struktur des Ensembles, das derzeit sehr groß ist. Wir wollen eine neue Balance zwischen Fixverträgen, Residenzverträgen und Gastverträgen schaffen. Ich möchte für jede Sängerin und für jeden Sänger das ideale Repertoire finden und für ein bestimmtes Projekt auch eine bestimmte Stimme holen können.

Das Ziel ist also ein kleineres Ensemble, um mehr Gäste engagieren zu können?
Wir werden ein anderes Repertoirehaus werden mit anderen Stücken. Und dafür werden wir manchmal einfach auch Menschen mit einem anderen Profil brauchen. Vielleicht gibt es da auch neue Modelle wie Künstler, die man auf flexiblerer Basis an das Haus bindet.

Erwarten Sie langfristige Änderungen im Opernbetrieb durch Corona? Ist etwa der internationale Opernzirkus Geschichte?
Wien war immer das schlagende Herz einer internationalen Operngemeinde. Musiktheater ist ein unglaublich kleines, überschaubares Metier. Das kann man nicht nur regional denken. Und im Bezug auf das Publikum glaube ich, dass wir jetzt erst wirklich begriffen haben, wie wichtig das Liveerlebnis ist. Wenn jemand direkt vor einem steht, den Mund öffnet und damit alle Herzen erreicht - das ist etwas, das können Sie nicht durch Netflix ersetzen.