Freilich gibt es Opernkomponistinnen. Aber man muss sie schon mit der Lupe suchen: von der Renaissance-Künstlerin Francesca Caccini über die französische Romantikerin Louise Bertin bis herauf zu Adriana Hölszky, Isabel Mundry oder Kaija Saariaho. Bis zur Vorarlbergerin Johanna Doderer, die schon sieben Musiktheater-Stücke in ihrem Werkverzeichnis hat. Oder zum „Wunderkind“ Alma Deutscher (13), die als Elfjährige ihre Oper „Cinderella“ schrieb und diese im Jänner 2018 auch in reduzierter Kinderfassung auf die Studiobühne der Wiener Staatsoper brachte.
Und Olga Neuwirth natürlich, die bisher auch schon fünf Bühnenwerke im Œuvre hat. Und nun ein sechstes, ihr größtes. 2013 erhielt die in Berlin lebende Steirerin von Staatsopern-Direktor Dominique Meyer einen Kompositionsauftrag für das Haus am Ring. In dessen 150-jähriger Geschichte gab es noch nie ein abendfüllendes Werk einer Frau. Bis Sonntagabend. Dort feierte Neuwirths „Orlando“ Premiere, basierend auf dem gleichnamigen Buch, das die Komponistin schon als 15-Jährige fasziniert hatte.
"Alles endet im Tod", sinniert Orlando einmal schwermütig auf der zugefrorenen Themse. Nur er selbst nicht. Denn Virginia Woolf lässt in ihrem Roman ihren Helden durch vier Jahrhunderte wandern, sich wandeln, verwandeln, in eine Frau. Kein Tod eines Wandlungsreisenden blüht dem adeligen Dichter auf dem Weg vom 16-jährigen Schöngeist zur 30-jährigen Auto fahrenden Frau, vom Elisabethanischen Zeitalter anno 1598 herauf bis 1928, in das Jahr, in dem die Londoner Autorin diese fiktive "Biographie" schrieb.
Neuwirth erzählt die Geschichte in ihrer zweieinhalbstündigen Oper noch weit darüber hinaus, bis hin zum 8. Dezember 2019, dem Tag der Uraufführung. Und das ist das Problem: Holocaust, Atombombe, Vietnam, 68er, Social Media, Kaufrausch, eine Art Life Ball, Trump Syrien-Krieg, gar Fridays for Future... In einem seltsamen Potpourri reihen die Komponistin, mit Catherine Filloux auch für das Libretto zuständig, und Regisseurin Polly Graham atemlos und plakativ eine Idee an die andere, so dass vieles zerfranst. Dabei wollen sie ja eigentlich Genderfragen, die Unterdrückung der Frau und das Aufbrechen von Normen zur Diskussion stellen. Dazu gibt es fast peinliche Zwischentexte, die wie Kalendersprüche anmuten. Zu viel gewollt, zu wenig erreicht. Flach- statt Tiefgang.
Letzteren hatte es allerdings im ersten Teil der Premiere zuhauf gegeben. Vom ersten Takt an hieß es: Willkommen in der musikalischen Wunderkammer der Olga Neuwirth! Orlandos Gang durch die Geschichte begleitet die 51-jährige Komponistin auch mit Streifzügen durch die Musikgeschichte und verliert ihre so faszinierende wie facettenreiche Handschrift selbst dann nicht, wenn sie Vorbilder zitiert, imitiert, persifliert: Renaissance-Madrigal, Lautenlied, Henry Purcells "Cold Song". Händel-Arie, Bach-Choral, Ringelreihe-Tanz, O Tannenbaum, ein "Danke für diesen guten Morgen" oder der Sound der Talking Heads – alles wird man am Ende gehört haben, und doch ist alles originär. Und originell.
Neuwirth wollte mit dem "Orlando" vom "Im-Dazwischen-Leben", von den "Übergängen", vom Suchen und Finden der Identität erzählen. Das gelingt ihr kompositorisch hervorragend, wohl auch, weil sie sich dem Orlando wesensverwandt fühlt. Aus dem Graben sirrt und flirrt und brüllt und raunt es, es schichten und türmen sich dichteste Klänge, auch aus Logen oder anderen Plätzen im Zuschauerraum. Dem Staatsopernorchester, erweitert um exotisches Schlagwerk, zwei Synthesizer, Band mit nach oben gestimmter E-Gitarre et cetera, verlangt sie alles ab: Samt dem Chor, der Chorakademie und der Opernschule der Staatsoper hat Matthias Pintscher einen Riesenapparat zu bewegen und tut das bei seinem Debüt im Haus mit solcher Ruhe, Präzision und Übersicht, als ob es ein obligates Repertoirestück wäre. Seine Souveränität rührt wohl auch daher, dass der deutsche Dirigent nicht nur ein ausgesuchter Experte im Zeitgenössischen ist, sondern selber Komponist. "Es war wie immer bei neuen Werken ein Sprung ins kalte Wasser", hatte Pintscher im Vorfeld über die Proben gesagt, "aber wie immer erfrischend".
Erfrischend, das gilt durchgängig für die Musik, auch wenn Neuwirth es den Zuhörern mit der Komplexität und Konzentriertheit ihrer Arbeit, vom auch in Graz tätigen Live-Elektroniker und Sounddesigner Markus Noisternig noch unterstützt, wahrlich nicht immer leicht macht. Das gilt für das hoch atmosphärische Bühnenbild von Roy Spahn, der unter anderem sechs senkrecht hängende, mobile Videopaneele für stimmige Fotos und Filme geschickt einsetzt. Und das gilt vor allem auch für die vor Kreativität strotzenden Kostüme von Rei Kawakubo und ihrem Label Comme de Garçons – Fashion Show und Opernuraufführung in einem sieht man auch nicht jeden Tag. Regisseurin Polly Graham, erst Mitte Oktober für die Steirerin Karoline Gruber eingesprungen, setzt das poetische Geschehen vor der Pause noch gekonnt um, für alle 19 Szenen gehen ihr (siehe oben) aber Luft und Einfälle aus.
Dass das Gesamtkunstwerk "Orlando", in dem auch Kalligraphie, Live-Kamera oder Licht (Ulrich Schneider) wichtige Rollen spielen, vor allem musikalisch begeistert, hat auch wesentlich mit der Protagonistin für die Hauptrolle zu tun: Kate Lindsey brilliert mit ihrem dunklen Mezzo, die Amerikanerin nimmt wie selbstverständlich alle Hürden der Partitur. Und auch darstellerisch macht sie den Wandel Orlandos vom Mann zur Frau in feinen Nuancen plausibel. Anna Clementi ist eine markante Erzählerin in dem auf Englisch gesungenen und gesprochenen Werk. Agneta Eichenholz verschwindet leider (der Geschichte entsprechend) als von Orlando angehimmelte Sasha bald wieder. Eric Jurenas als Schutzengel oder Leigh Melrose als Shelmerdine überzeugen ebenso wie der Rest des großen, motivierten Ensembles.
Am Ende gab es Jubel für alle Musiker – speziell für Lindsey/Orlando und für den Dirigenten Matthias Pintscher, respektablen Applaus für das Team um Regisseurin Polly Graham und Ovationen für die offenbar sehr zufriedene Olga Neuwirth, untermischt mit ein paar wenigen Buhs.
Die Vorgeschichte
Von der „Habergoaß“ bis zum „Orlando“
Sie war erst 17, als sie an einer Oper mitarbeitete: Olga Neuwirth, Schülerin aus Schwanberg und Tochter des Jazzpianisten Harry Neuwirth, assistierte 1985 beim Jugendmusikfest Deutschlandsberg Hans Werner Henze bei „Robert der Teufel“ und komponierte für diese sozialutopische Oper, in der es um den Protest gegen Profitgier, Gewalt und Kriegstreiberei ging, zwei Lieder sowie Tänze von Wassermann, Scharbock und Haberngoaß. Das Libretto, eine weststeirische Sage ironisierend, schrieb Elfriede Jelinek. Die damals entstandene enge Freundschaft Neuwirths zur Autorin hält bis heute, und Jelinek lieferte ihr Texte zu Werken wie „Bählamms Fest“, „Sportstück“, „Lost Highway“.
Olga Neuwirth nannte ihre Werke wegen ihres pessimistischen Grundtons oft „Katastrophenmusik“. Dieser Pessimismus war und ist aber auch immer ein Schild für die Musikerin, zum Beispiel, um sich im ellenbogenharten „Boys Club“ der Branche durchzusetzen oder Rückschläge abzuwehren: Im Oktober 2004 hatte die Staatsoper das mit den Salzburger Festspielen und Paris geplante Opernprojekt „Der Fall Hans W.“ von Neuwirth gestoppt, weil Ioan Holender und Gerard Mortier das Libretto zu schlecht erschien. Es stammte von Jelinek, die ein paar Tage später zur Literaturnobelpreisträgerin gekürt wurde. „Wir wurden damals entsorgt“, erinnerte sich Neuwirth an den abgewürgten Kompositionsauftrag, der zunächst als „Don Giovanni“-Paraphrase auf den NS-Psychiater Heinrich Gross gedacht war, dann auf den wegen Pädophilie und Anstiftung zum Mord verurteilten Kinderarzt Franz Wurst.
Was lange gärt, wurde nun endlich gut. Mit der Uraufführung von „Orlando“, in der es die musikalische Unruh Olga Neuwirth wie in allen ihren Werken irritierend ticken lässt im Klang der Zeit.
www.olganeuwirth.com
Michael Tschida