Einer hält sich für Einstein, der nächste für Newton, der dritte unterhält sich Tag für Tag mit König Salomon:Bei soviel Irrsin trifft es sich gut, dass die drei Physiker im Sanatorium von Frl. Dr. Mathilde von Zahnd gut weggeschlossen sind. Obwohl man sagen muss, dass die Betreuungsstatistik nicht gut aussieht für die exklusive Pflegeanstalt: Drei Pflegerinnen sind den Physikern jüngst zum Opfer gefallen, allesamt erdrosselt. Dem Staatsanwalt gefällt das ebenso wenig wie dem ermittelnden Kriminalinspektor. So beginnt Friedrich Dürrenmatts 1962 uraufgeführtes Drama "Die Physiker", längst ein Klassiker des deutschsprachigen Nachkriegstheaters und unter der irreführenden Bezeichnung "Komödie" eine düstere, in Metaphysische auskragende Auseinandersetzung mit dem apokalyptischen Potenzial des Kalten Krieges im nuklearen Zeitalter: "Die Physiker" erzählt von der moralischen Verantwortung der Wissenschaft und den Schrecken eines unaufhaltsamen Fortschritts und wählt dazu das Mittel der Groteske.
Die klaren politisch-ideologischen Pole sind der Welt mittlerweile abhanden gekommen, die Fronten haben sich verlagert. Im Grazer Schauspielhaus formt Dürrenmatts Landsmännin Claudia Bossard, die letzte Saison im Haus 2 eine dynamische Uraufführung von Clemens Setz' "Erynnia" inszeniert hat, das Stück nun zum bunten Karneval der kranken Hirne - und dreht zu diesem Zweck die Rollenverhältnisse einfach um. Bossard hat alle Männerrollen mit Frauen, alle Frauenrollen mit Männern besetzt. Was einerseits dazu führt, dass am Ende - wenn die drei Physiker Möbius, Einstein, Newton (Sarah Sophia Meyer, Tamara Semzov, Julia Franz Richter), die sich nur im Irrenhaus wirklich frei wähnten, erkennen müssen, dass sie der Anstaltsleiterin von Zahnd auf den Leim gegangen sind - wieder einmal die Frauen von den Männern angeschmiert sind. Andererseits den Weg frei macht für hinreißend dosiertes Drag-Posing von Könnern wie Andri Schenardi, Frieder Langenberger, Oliver Chomik.
Das alles ereignet sich in spitalsgrüner Kulisse, in der sich immer größere Löcher auftun (Bühne und Kostüme: Frank Holldack, Elisabeth Weiß), und in einer Inszenierung, die in knapp zweieinviertel Stunden zwar gewisse Längen zu Anfang und zu Ende zeigt, aber dazwischen alles aufbietet, was einem Lehrstück wie diesem Sex-Appeal, Frische, Gegenwärtigkeit verleiht und Spaß macht: Referenzen von James Bond und Edgar Wallace bis zu Quentin Tarantinos "Kill Bill" und Spaghettiwestern flirren in der temporeichen Inszenierung vorüber, zwischendurch erlebt man unverhofft ein von Meyer und Langenberger berückend gespieltes und gesungenes pompöses Musicalfinale mit Tanz und Duettgesang zu Lady Gagas "Shallow". Das alles ist ziemlich überkandidelt, aber es funktioniert, auch dank des Musikertrios Paul Öllinger, Anna Tropper-Lener, Alice Peterhirn, das den Abend mit Songs von Bowie bis Piaf großartig akzentuiert. Langer Applaus für einen fulminant amüsanten Abend.
Die Physiker. Von Friedrich Dürrenmatt. Schauspielhaus Graz. Nächste Termine: 23., 29., 30. Oktober, 6., 8., 9. November.
www.schauspielhaus-graz.com
Ute Baumhackl