"Die Grand Opéra" als Kammerspiel" hatte Jetske Mijnssen im Interview mit unserer Zeitung im Vorfeld versprochen. Versprochen, gehalten. Die niederländische Regisseurin zeigt in "Don Carlo" die Engführung von tragischen Beziehungen, von zweifelnden und verzweifelten Personen, die in repressiven Zeiten und Umständen Schmerz und Einsamkeit, Angst und Sorge nicht nur zufügen, sondern auch selbst erdulden müssen.
2017 hatte Mijnssen Tschaikowskis "Eugen Onegin" an der Oper Graz in einer reduzierten Regie zum sinnlich-poetischen Ereignis gemacht. Nun fächert die 48-Jährige in Giuseppe Verdis düsterstem Bühnenwerk die psychologischen Zwänge auf, denen die höfische Welt im 16. Jahrhundert unterliegt. Gibt es zwischen Altar und Thron, Inquisition und Staatsräson, Machtspiel und Rebellion überhaupt noch Platz für Wahrheit, Offenheit? Für Sprache ohne Maskerade? Für Gefühle? Für echte Liebe?
Basierend auf Friedrich Schillers dramatischem Gedicht "Don Karlos", erstellte Verdi 1867 mit seiner Tragödie einen Katalog menschlicher und gesellschaftlicher Fragestellungen. Der Titelheld, Infant von Spanien, liebt die französische Prinzessin Elisabeth von Valois, die allerdings - um das Ende des Spanisch-Französischen Krieges zu besiegeln - mit seinem Vater Philipp II. verheiratet wird. Don Carlo gerät an der Kreuzung von privater Befindlichkeit und politischer Vision in eine fatale Sackgasse. Der Streit des Thronfolgers mit seinem Vater eskaliert, auch weil er im Machtringen Hand und Messer gegen ihn erhebt, weil die ihn heimlich liebende und dann verschmähte Hofdame Eboli intrigenhaft mitmischt und weil der Großinquisitor nicht nur in einem Autodafé, also Glaubensgericht, Ketzer und Verräter hinwegschlachten, sondern auch den liberalen Marquis von Posa, Don Carlos' treuen Freund, aus dem Weg räumen lässt
Mijnssen bleibt mit ihrer Deutung, wie auch Kostümbildnerin Dieuweke van Reij, im historischen Kontext. Für diese dunkle Erzählung aus dem gar nicht so goldenen Zeitalter Spaniens baute ihr Gideon Davy eine enge Guckkastenbühne, einen Raum aus Kassettendecken und -wänden, die sich verschieben lassen und somit aus den Zimmern am Hof Zellen machen, passend zum Kerker, in dem Don Carlo am Ende kauern wird. Aber hier, so kann man aus der Interpretation Mijnssen lesen, ist ja letztlich jeder ein Gefangener – seiner selbst, der Umstände, der Bitternis, der Einsamkeit.
Der ukrainische Tenor Mykhailo Malafii wächst in die Hauptrolle hinein, als mit sich ringender Don Carlo kann er aber mit den beiden anderen großen Männerpartien nicht ganz mithalten: Der Bosnier Neven Crnić unterstreicht als Marquis von Posa mit seinem heldisch geführten Bariton, dass er zuletzt nicht zufällig etliche Preise eingeheimst hat. Und der hünenhafte Finne Timo Riihonen verfügt als Philipp II. über einen herrlich mächtigen Bass. Die weißrussische Mezzosopranistin Oksana Volkova steigert sich als Eboli bis hin zu der berührenden Reueszene. Und die Rumänin Aurelia Florian bewegt nicht nur mit schön gerundetem Sopran, sondern auch mit ihrer unter die Haut gehenden Darstellung der Elisabeth, die es zwischen Ehrenhaftigkeit und Leidenschaft zerreißt. Auch der Rest des hochwertigen Gesangsensembles um die feinsinnige Tetiana Miyus (Stimme von oben) und Dmitrii Lebamba (Großinquisitor) überzeugt.
Oksana Lyniv führt beherzt und gestaltungsfreudig durch die vieraktige Fassung des "Don Carlo" aus 1884, die vor melodischen, harmonischen und rhythmischen Einfällen nur so strotzt und in ihrer Kühnheit weit über ihre Entstehungszeit hinausweist. Durch die komplexe Partitur voller melancholischer bis aufwühlender Passagen folgen der Chefdirigentin, die die inhaltliche Spannung in den zweidreiviertel Stunden Musik durchwegs hält, der von Bernhard Schneider fein einstudierte Chor mit vielen szenischen Aufgaben und die Grazer Philharmoniker, die – zumal in den viel geforderten Bläsergruppen – im Fortlauf des Abends mehr und mehr zu Klangraffinesse finden.
Michael Tschida