Alcina ist eine ambivalente Figur. Die Männer verfallen ihr reihenweise, und sie nützt ihre mächtige Wirkung auch gnadenlos aus. Wenn die Liebe nachlässt und der Geliebte in Ungnade fällt, wird er verzaubert, sprich in die Wüste geschickt. Aber auch diese Frau wird älter, und je weniger sie sich auf ihre Macht über Männer verlassen kann, desto verletzlicher und verwundbarer wird sie. Genau da setzen Händel und sein unbekannter Librettist ein.
In bester Barock-Manier wirken die Gefühlsregungen klischeehaft, übertrieben und hölzern - Zeitgeist des Jahres 1735 eben. Aber die überwiegend zarten, tieftraurigen und oft sogar verzweifelt klingenden Arien des großen Opern-Impresarios und Komponisten Georg Friedrich Händel entschädigen dafür nachhaltig. Besonders deswegen, weil im Haus für Mozart auch bei der Wiederaufnahme bis auf ein paar wenige kleine Abstriche hervorragend musiziert wurde.
Gianluca Capuano dirigierte das Barockorchester Les Musiciens du Prince-Monaco umsichtig und mannschaftsdienlich. Leicht unterstützt von einer Tonanlage, gab es schlanke und zugleich sinnlich-saftige Orchesterklänge zu hören, die keinen der Sänger je unter Druck gesetzt haben. Zwar gab es immer wieder ein paar kleinere rhythmische Meinungsverschiedenheiten, aber alles in allem war wirklich guter Händel zu hören.
Von den Solisten ist zu aller erst Philippe Jaroussky als Ruggiero zu nennen, dessen Falsett schlichtweg als makellos bezeichnet werden kann. "Chefin" Cecilia Bartoli in der Titelrolle ist musikalisch und schauspielerisch eine Klasse für sich, und ihr Publikum liebt und verehrt sie zurecht. Kristina Hammarström lieferte als Bradamante die fetzigsten Koloraturen und wurde dafür ausgiebig bejubelt. Stilsicher und blitzsauber klang Sandrine Piau in der Rolle der Morgana. Und auch Christoph Strehl als Oronte, Alastair Miles als Melisso und nicht zuletzt der blutjunge Wiener Sängerknabe Sheen Park als Oberto komplettierten ein großartiges Händel-Ensemble.
Dass dieser Opernabend mehr war als ein hochklassiges Sängerfest mit furchtbar viel Wut, theatralischer Verzweiflung und Melancholie, ist dem Regieteam zu verdanken. Der 44-jährige Regisseur Damiano Michieletto hat mit "Alcina" seine erste Barockoper abgeliefert und sich auch in diesem Fach bewährt. Ästhetisch setzen er und sein Bühnenbildner Paolo Fantin auf eine riesige gläserne Wand, die die Bühne in ein Davor und ein Dahinter teilt. Davor spielt die Geschichte, dahinter befindet sich quasi eine emotionale Metaebene. Dort tummeln sich verwandelte und geschasste Liebhaber, die versuchen, in die Geschichte einzubrechen und mit Fortdauer der Oper immer mehr Unruhe stiften. Auf die Glaswand selbst werden von Rocafilm Videos mit vielen spannenden Effekten projiziert. Somit gelingt ein geschickter Mittelweg zwischen psychologischer Deutung und unterhaltsamem Bestaunen starker, assoziative Bilderwelten.