Das Zeltlager finden sie toll, den Drill, das Exerzieren, die gebellten Befehle, die Aussicht bald schießen zu dürfen. Schulbuben in kurzen Hosen stehen da erwartungsvoll, wie sprungbereit auf der Bühne. In einem spektakulären und spektakulär ausgeleuchteten Dickicht aus toten Bäumen üben sie strammstehen und "Rührt euch!": Junge Menschen, die nur darauf warten, zu Maschinen zu werden, zu Teilen eines brutalen, kriegerischen Apparats, den sie für das höhere Ganze halten. Wir spielen Mord, bald wollen wir mehr.
Besorgt betrachtet das ihr Lehrer. Er soll im Lager für Disziplin sorgen, obwohl ihm seine Schützlinge in einem gemeinsamen Brief das Misstrauen ausgesprochen hatten - weil er es wagte, einen Schüler für rassistische Ausfälle in einem Aufsatz zu tadeln. Als ebendieser erschlagen im Wald gefunden wird, ist der vermeintlich Schuldige bald entdeckt - ein verfeindeter Mitschüler soll es gewesen sein. Der Lehrer, der zuvor heimlich das Tagebuch des Angeklagten gelesen hat, weiß, dass er unschuldig ist, schiebt aber aus Eigeninteresse die Enthüllung immer weiter hinaus,
"Jugend ohne Gott", Ödön von Horvaths Erzählung einer Gesellschaft, die dabei ist, in rechte Barbarei abzudriften, beschreibt die Verrohung einer verunsicherten Generation und das opportunistische Zaudern derer, die es an sich besser wissen. In der Bühnenfassung des Berliner Schaubühnen-Chefs Thomas Ostermeier, der ersten Schauspielproduktion dieser Festspiele, wird daraus die holpernde, stolpernde Heldenreise eines Mannes, der eigentlich nicht so recht bereit ist, seine Existenz der Wahrheit zu opfern.
Jörg Hartmann, nicht erst seit seinem spröden Dortmunder "Tatort"-Kommissar Peter Faber Spezialist für Charaktere, die nicht wahnsinnig dringend gemocht werden wollen, verleiht der Figur des Lehrers grandiose Ambivalenz; fast zweieinhalb Stunden sieht man in seinem Gesicht alle moralische Gewissheit erodieren, ehe sich in der bereits korrumpiert scheinenden Existenz doch noch einmal Widerstand gegen die herrschenden Verhältnisse regt.
Rund um Hartmann gruppiert Ostermeier sieben durchwegs junge Schauspieler, die wie anstrengungslos mehr als 40 Rollen schultern. Das präzis getaktete, mitreißende Spiel dieses fantastischen Ensembles um Damir Avdic, Veronika Bachfischer, Laurenz Laufenberg, Alina Stiegler lässt fast vergessen, dass die Regie sich zwischendurch eher unentschlossen zeigt- was als Faschismusstudie beginnt, kippt bald recht konsequent in Krimihandlung und Gerichtssaaldrama, Horvaths drängende Fragen nach Schuld, Sühne, Verantwortung, nach der Gegenwart Gottes treten in den Hintergrund.
Vorab hatte Ostermeier angekündigt, er wolle allzu augenfällige Parallelen zwischen der Entstehungszeit von Horvaths Text und der Gegenwart vermeiden. Daran hält er sich auch bis auf die vom Premierenpublikum freudig belachte Anspielung, ein Sägewerk in der Nähe des Zeltlagers habe schließen müssen "weil der Haselsteiner jetzt keine Aufträge mehr kriegt". Ansonsten lässt er Hartmann aus Fanbriefen an Adolf Hitler zitieren und zeigt Videoeinspielungen aus Nazi-Propagandafilmen - das dient der zeitlichen Verortung, speist dank sparsamer Verwendung aber auch nicht den Verdacht, man sei angetreten, um wieder einmal zu den ohnehin Bekehrten zu predigen. Denn inwieweit man selbst angesichts steigenden Chauvinismus' und autoritärer Tendenzen zu den Zauderern zählt, muss sich ohnehin jeder selber fragen. Vermutlich öfter, als einem lieb sein kann, aber das ist natürlich typisch für Heldenreisen.
Sehr langer, sehr begeisterter Applaus für das formidable Ensemble, das Horvaths Text zum Leuchten bringt, aber auch für eine Regie, die die politischen und moralischen Grundkonflikte der Erzählung in betörende Bilder kleidet, aber um das Transzendentale des Texts einen weiten Bogen schlägt.
Ödön von Horvath. Jugend ohne Gott. Koproduktion der Salzburger Festspiele mit der Schaubühne Berlin. Regie: Thomas Ostermeier. Bühne: Jan Pappelbaum. Kostüme: Angelika Götz. Musik: Nils Ostendorf. Licht: Erich Schneider. Video: Sebastien Dupouey. Dramaturgie: Florian Borchmeyer.
Mit: Jörg Hartmann, Bernardo Arias Porras, Damir Avdic, Veronika Bachfischer, Moritz Gottwald, Laurenz Laufenberg, Alina Stiegler, Lukas Turtur.
Termine: 30. Juli (ausverkauft), 1. August, 4./7./9./10./11. August (alle ausverkauft). www.salzburgerfestspiele.at
Ute Baumhackl