Tobias Kratzer, der Sieger des Ring-Awards 2008 in Graz, der seither schon manch weiteren Preis einheimsen konnte, versucht Kühnes. Statt wieder einmal die abgedroschene Geschichte von der Frau als Hure und/oder Heiliger zu erzählen, von der die Oper auch handelt, sucht er nach Spuren von Wagners großer Lebenswende, die mit der Entstehung des Werks einherging. Der gescheiterte Revolutionär musste sich politisch arrangieren, um sein Werk verwirklichen zu können und so vielleicht indirekt doch noch ein bisschen Politik machen zu können. Die Geschichte vom Troubadour Tannhäuser, der Elisabeth liebt und der Leidenschaft für Frau Venus verfällt, eignet sich durchaus für diese Deutung.
Während der Ouvertüre zeigt Kratzer in einem Video eine erfundene Vorgeschichte. Tannhäuser reist mit Venus, Oskar Matzerath - ja, dem aus der Blechtrommel - und Le Gateau Chocolat, einer schrillen Drag-Queen aus Nigeria, in einem klapprigen Citroen-Kastenwagen durch die Welt. Die Venus-Welt Wagners ist bei Kratzer eben nicht von Sexbesessenen bevölkert, sondern von kreativen Aussteigern. Das Trio aber gerät auf Abwege, prellt die Zeche beim Burger-King, den Polizisten, der sie beim Benzindiebstahl erwischt, fahren sie tot. Tannhäuser (Stephen Gould) ist ernüchtert, schockiert, wozu Venus Elena Zhidkova fähig ist. Er geht, besser, lässt sich aus dem fahrenden Wagen fallen. Ein Hirte liest ihn vor der riesigen Projektion von Caspar David Friedrichs Gipfelkreuz im Abendrot auf, seine wehmütige Weise weckt die Sehnsucht nach dem alten Leben.
In der ersten Pause lockt Musik zum Teich am Fuße des Grünen Hügels. Le Gateau Chocolat singt am Ufer seine Chancons, neben ihm grast ein aufblasbares Rieseneinhorn mit Regenbogenschweif. Oskar rezitiert im Schlauchboot Revolutionäres von Wagner, und Venus verfertigt ein Transparent. „Frei im Wollen, frei im Thun, frei im Genießen“, einen Satz aus Wagners Text „Die Revolution“, malt sie weiß auf schwarzen Grund. Sie wird es noch brauchen im zweiten Akt.
Während sich im Festspielhaus der Sängerstreit anbahnt, erklimmt das Trio mit einer Stehleiter den Balkon des Hauses, befestigt das Transparent und dringt ein. Eine Leinwand über der historisierenden Wartburg-Szene zeigt in edlem Schwarzweiß das Vordringen der Anarchisten im Haus. Venus betäubt gar einen Edelknaben und drängt sich in dessen Kostüm mit auf die Bühne. Am Ende muss die Bundespolizei, gerufen von Intendantin Katharina Wagner selbst, die bunte Schar dingfest machen.
Dass all das nicht in Slapstick und banalem Jux endet, macht die hohe Kunstfertigkeit Kratzers und seines Teams aus. Manuel Braun verantwortet die professionellen Videos, Bühne und Kostüme fertigte, wie immer bei Kratzer-Inszenierungen, Rainer Sellmaier. Sehr genau kennt Kratzer die Entstehungsgeschichte des Werks, nie inszeniert er gegen die Musik. Allenfalls den Vorwurf der Überdosierung muss er sich gefallen lassen. Der Video-Überfall der Venus-Mannschaft lenkt mit seiner schrillen Witzigkeit schon stark ab vom Sog der Chor-Tableaus.
Die Feindseligkeit mancher Besucher zog sich Kratzer im dritten Akt zu. Auf einem Autofriedhof wartet Oskar im kaputten Citroen auf die Rückkehr von Tannhäuser. Warum unterdessen Elisabeth dem Werben Wolframs nachgibt, als er vor ihren Augen in Tannhäusers Clownsgewand steigt, erschließt sich nicht. Auch ihr blutiger Selbstmord könnte die Stimmung gegen den Regisseur gewendet haben. Jedenfalls prasselte mancher Zornesruf auf den Regisseur nieder.
Die junge Norwegerin Lise Davidsen feierte als Elisabeth ihr umjubeltes Bayreuth-Debüt mit kraftvoll-frischer, ausdrucksvoller Stimme. Stephen Gould, der diesen Sommer auch noch die Bayreuther Tristan-Serie singt, ist für den Tannhäuser stimmlich schon fast zu wuchtig geworden. Elena Zhidkova, die kurzfristig für die verletzte Ekaterina Gubanova einsprang, macht manchen schrillen Ton durch herzerfrischendes Spiel wett. Valery Gergiev entlockt dem Festspielorchester prachtvolle Schalmeientöne, gelegentlichen Spannungsabfall kann er nicht verhindern. Markus Eiche leiht dem Wolfram von Eschenbach wieder seine weich strömende Stimme. Und die kirgisische Sopranistin Katharina Konradi, die diesmal nur den Hirten singen durfte, wird man gewiss noch in größeren Rollen hören. Ein erfrischender Festspielauftakt.
Thomas Götz