An „Lucia di Lammermoor“ sind schon etliche Regisseure prächtig gescheitert. Zuletzt wollte im Februar an der Wiener Staatsoper die erste Neuinszenierung nach 1978 (!) so gar nicht gelingen: Laurent Pelly hatte sich für die Liebesgeschichte, die durch private Ranküne und politisches Kalkül vereitelt wird, von Stummfilmästhetik inspirieren lassen und vielleicht deswegen so wenig zu sagen gehabt in diesem Psychospiel zwischen Alb und Traum. Das freudlose Stehtheater im Haus am Ring rettete das Ensemble mit Olga Peretyatko und Juan Diego Flórez an der Spitze, wenn auch beide nicht vollends überzeugend.
Grazer Produktionen ebenfalls nicht ruhmreich
Die letzten beiden Produktionen an der Oper Graz waren ebenfalls nicht ruhmreich. 1998 musste das Werk, mit der Gaetano Donizetti imposant den Wechsel von komischen Belcanto-Opern in das Genre des tragischen Melodrams schaffte, nicht nur eine arge Verstümmelung seiner 140 Minuten Musik hinnehmen, die Dan Ratiu zudem wenig subtil umsetzte; auch Sabine Loews seltsame inszenatorische Beifügungen stießen auf breite Ablehnung. Zehn Jahre später erging es dem 1835 in Neapel uraufgeführtem Dramma tragico mit Ezio Toffolluttis konventioneller, über weite Strecken statischer und einfallsloser Inszenierung nicht besser, aber wenigstens sorgte Dirk Kaftan mit den aufmerksamen Philharmonikern für eine dynamische Ausleuchtung von Donizettis Partitur.
Nun also wieder eine „Lucia“ in Graz. In die Hände gelegt wurde sie diesmal Verena Stoiber. Die Regisseurin hatte mit Sophia Schneider (Bühne und Kostüme) beim „Ring Award“ 2014 mit ihrer magischen „Freischütz“-Version in einer devastierten Kirche bis auf die Publikumswertung alle Preise abgeräumt. Das deutsche Duo hatte damit auch einen Regieauftrag für Graz erhalten, den es zum Saisonauftakt 2016 mit Richard Wagners „Tristan und Isolde“ allerdings wenig schlüssig als zeitloses Liebesdrama im Heute statt im Mittelalter umsetzte.
Romeo-und Julia-Geschichte
Mit dieser „Lucia di Lammermoor“ erzählt Stoiber die Romeo-und Julia-Geschichte aus dem Schottland des 16. Jahrhunderts, in der Edgardo und Lucia aus verfeindeten Adelsfamilien stammen, sich dennoch lieben, aber schon mit dem Schwur ewiger Treue einem traurigen Ende zugehen, auf ganz eigenwillige, aber sinnfällige Art. Sie macht es nämlich, wie übrigens Olivier Py im Herbst im Theater Basel auch, indem sie sich für ihre Deutung von der Hysterieforschung des ausgehenden 19. Jahrhunderts inspirieren ließ. Lucias Bruder, nur auf Geld, Macht und Ehre bedacht, ähnelt bei ihr dem französischen Pathologen und Neurologen Jean-Martin Charcot, der - auch von Sigmund Freud bewundert - auf diesem Gebiet Pionier war. Enrico zwingt seine Schwester während der Abwesenheit seines Erzfeindes Edgardo aus politischen Gründen nicht nur zu einer Heirat mit einem anderen und setzt damit eine fatale Abwärtsspirale in Gang, er drängt in Stoibers Lesart die Schwangere als Arzt auch zu einer Abtreibung, die Kürettage führt er gleich eigenhändig durch. Patriarchalische Machtausübung mit psychischem Druck, aber auch mit dem Schablöffel ...
Historischer Anatomiesaal
Sophie Schneider stellt für das medizinisch-psychiatrische Setting einen historischen Anatomiesaal im Amphitheaterstil auf die Bühne: Der dient als Bad einer Nervenheilanstalt, in dem nackte Frauen mit kaltem Wasser abgespritzt werden. Als Krankenstation mit kühlem, klinikweißem Klinker. Als Demonstrationsort für Hypnose-Experimente. Als Arena für Jubelchöre aus dem Volk. Oder als Hochzeitsaal, wenn Lucia statt des vermeintlich untreuen Edgardo, hier ebenfalls Mediziner, den blassen Arturo heiraten muss.
Stoiber und Schneider, die auch für die Kostüme verantwortlich zeichnet, erzählen als eingespieltes Team die Geschichte sehr in und mit der Musik, übertreiben nur etwas mit der Frequenz der Drehbühne, mit der zwischen Realität und (Alb-)Träumen changiert wird. Die vielen Buhrufe am Ende galten wohl hauptsächlich der unverhüllten Körperlichkeit und Erotik ihrer Arbeit, übersahen aber die Ernsthaftigkeit und durchkomponierte Schlüssigkeit ihrer Interpretation.
Schlüssiges kam auch aus dem Graben. Nach eher ruppigem Beginn und neben ein, zwei Wackelkontakten fand Andrea Sanguineti mit den flexiblen Philhamonikern zu einer intensiven Auffächerung von Donizettis Klangfarbenpalette. Fein gearbeitete Passagen unterstützten den von Bernhard Schneider einstudierten, präsenten Chor und das Ensemble, das schon mit Mareike Jankowski (Alisa), Martin Fournier (Normanno), Albert Memeti (Arturo) und vor allem mit dem schlagkräftigen Alexey Birkus als Raimondo hervorragend besetzt war.
Aber das Dreieck, um das sich alles dreht, bildete den eigentlichen Höhepunkt der frühen letzten Premiere dieser Opernsaison in Graz. Der wendige Bariton Rodion Pogossov stattete den intriganten Machtmenschen Enrico mit hoher Virilität aus. Pavel Petrov, ein immer stärker glänzendes Juwel im Hausensemble, gab den Edgardo mit blitzsauberem Tenor in strahlendsten Farben.
Als Lucia ein Ereignis für sich
Und Ana Durlovski ist als Lucia ein Ereignis für sich. Von Christa Schönfeldinger auf der Glasharmonika mit flirrenden Gespensterklängen begleitet, zeigte die in Stuttgart engagierte Mazedonierin, die seinerzeit in Skopje als Lucia debütierte, dass sie die Rolle mehr als intus hat: Die 20-minütige Wahnsinnsszene geriet der international gefeierten Sopranistin mit dem knisterndem Timbre jedenfalls zum Triumph, sie brillierte sängerisch bis in lichteste Höhen und zarteste Piani und berührte auch mit inniger Darstellung. Fesselnde Anatomie einer Verzweiflung. Darf man eigentlich im März schon seine Stimme für die "Sängerin des Jahres" abgeben?
Michael Tschida