Für sich betrachtet sind die akrobatischen Leistungen, die von Artisten des Cirque du Soleil geboten werden, zweifellos toll, aber nicht herausragend. Was das global agierende kanadische Zirkusunternehmen jedoch außergewöhnlich macht, ist ein perfekt ineinandergreifendes System von Show und Sport, Inszenierung und Vermarktung. Das lässt sich nun auch anhand der Show "Totem" in Wien begutachten.
In seiner Aufsatzsammlung "Totem und Tabu" beschäftigte sich Sigmund Freud 1912/13 mit den Unterschieden von Naturvölkern und zivilisierten Gesellschaften. In "Totem", dessen erzählerischer Roter Faden laut Werbung die Evolutionsgeschichte bilden soll, agieren die Artisten nicht nur in Amphibien- und Affenkostümen, sondern auch als "Wilde" - eine Repräsentation, die heutzutage selbst eigentlich ein Tabu darstellt.
In ihrer vielfältigen Bezugnahme "auf Symbole, Naturerscheinungen, Stammesabzeichen und Metaphern" grenzt die Aufführung wiederholt an Ethno-Kitsch. Seit 2010, als die seither durch die Welt reisende Show in Montreal Premiere hatte, musste auch "Totem"-Regisseur Robert Lepage lernen, dass die Lage komplizierter geworden ist: Der kanadische Theatermagier wollte für das Theatre du Soleil (mit dem Cirque du Soleil weder verwandt noch verschwägert) in dem Stück "Kanata" die Geschichte seines Heimatlandes thematisieren und geriet unter harte Kritik, da er dabei keine indigenen Schauspieler miteinbezog.
"Totem" ist den ethnic-correctness-Kontrolleuren eindeutig durch die Lappen gegangen. Szenografisch hat das Ausstattungsteam für die Show, die nun ihre Zelte in Wien Neu-Marx aufgeschlagen hat, ganze Arbeit geleistet. Unter einem an Neuronen oder Ganglien erinnernden und in der Eröffnungsnummer als Turngerüst verwendetem Geflecht bildet eine nach Art eines Riesen-Schildkrötenpanzers gewölbte Insel die Bühne. Umrahmt von einem überdimensionalen Schilfgürtel zaubern hier Projektionen die perfekte Illusion verschiedener Wasserlandschaften hervor - vom kristallklaren Meeresbiotop bis zum Fun-Paradies, in dem ein Schnellboot samt Wasserskifahrer die Wellen durchpflügt und schließlich zur Rakete wird - die Erzählung des Abends reiche "von den amphibischen Ursprüngen bis zur Verwirklichung des Traums vom Fliegen", verspricht die Werbung.
In diesem Setting findet eine inklusive Pause zweieinhalbstündige Nummernfolge statt, die durch die Inszenierung zu etwas Besonderem werden soll, letztlich aber eine Abfolge meist klassischer Akrobatiknummern in guter bis sehr guter Qualität ist. An Ringen und am Trapez werden beeindruckende Muskeln und Leistungen gezeigt, Bodenakrobatik und Jonglieren sind nicht immer gänzlich überzeugend.
Am Besten gefallen zwei schlichte, doch originell umgesetzte Nummern: ein Clown, der aus einem Boot im Trüben fischt, und ein verrückter Professor, der in einem großen gläsernen Kegel bunte Leuchtkugeln in rasante Bahnen lenkt. Mehr als fünf Millionen Zuschauer sollen "Totem" weltweit bereits gesehen haben, und bis 22. April werden in Wien rund 100.000 weitere Besucher dazukommen. Am Ende der gestrigen Wien-Premiere setzte ein exakt vor dem Haupteingang in Flammen aufgegangenes Auto einen gar nicht zur Show gehörenden Schlusspunkt des Abends. Manchmal reichen auch schlichte Effekte, um spektakuläre Wirkung zu erzielen.
Wolfgang Huber-Lang