"Lucia di Lammermoor“ ist ja eigentlich keine Oper, vielmehr ein einziger großer Seufzer, ein einziger Trauerzug Richtung Abgrund. Denn was schon bei den Montagues und Capulets scheiterte, kann auch bei den Ravenswoods und Ashtons nur ins Elend münden: Edgardo und Lucia stammen aus verfeindeten Adelsfamilien und lieben sich dennoch. Dieser Romeo und diese Julia aus dem Schottland um 1600 gehen dem traurigen Ende zu, noch ehe etwas richtig begonnen hat...
Gaetano Donizetti glückte 1835 der Wandel vom heiteren Belcanto hin zum dunklen Melodram. Seine Lucia wurde wie Verdis Violetta aus „La Traviata“ zum Inbegriff der tragischen Frauenfigur und zur Paraderolle großer Sopranistinnen von Maria Callas über Joan Sutherland bis zu Edita Gruberová, die 1978 in der Partie an der Staatsoper brillant debütierte. Das romantische Schlüsselwerk in der nicht wirklich staubfreien Regie von Boleslaw Barlog wurde danach bis 2012 im Haus am Ring ganze 158 (!) Mal gezeigt.
Höchste Zeit also für eine Neuinszenierung. Doch die Sicht von Laurent Pelly auf die Liebesgeschichte, die durch private Ranküne und politisches Kalkül vereitelt wird, dürfte gewiss nicht so lang überdauern. Der Pariser hat sich von Stummfilmästhetik inspirieren lassen. Vielleicht hat er deswegen so wenig zu sagen mit seinem Psychospiel zwischen Alb und Traum, das er zudem mit monochromen Kostümen ausstattet.
Edgardo und Lucia sind bei Pelly aschfahle Menschenhüllen statt brennend Liebende, und aus der fatalen Dreiecksbeziehung mit Lucias intrigantem Bruder Enrico schlägt er ebenfalls kaum Funken. Ja, man kann dieses Dramma tragico auch als Horror psychisch Angeknackster erzählen, die durch Schnee, düstere Häuser und Landschaften stolpern (Bühne: Chantal Thomas). Aber seine Figuren über weite Strecken beim stoischen Rampensingen oder mit Gesten aus der Opernvolksschule (Griff ans Herz: traurig! Griff an den Kopf: verzweifelt!) allein zu lassen, ist sträflich.
Wenigstens rettete bei der Premiere die Musik. Nicht so sehr Evelino Pidò – der ausgewiesene Donizetti-Experte aus Turin musste mit dem Staatsopernorchester erst warm werden und agierte mit der Originalpartitur auf dem Pult teilweise zu plakativ. Aber schon die Hausbesetzung mit Virginie Verrez (Alisa), Leonardo Navarro (Normanno), Lukhanyo Moyake (Arturo) und vor allem dem kraftstrotzenden Jongmin Park (Raimondo) war stark. Dazu George Petean als solider Enrico. Und Juan Diego Flórez, der als Edgardo darstellerisch auf Schmalspur lief, aber mit seinem Tenor aus purem Weißgold alle überstrahlte.
Olga Peretyatko darf im Gegensatz zu anderen Interpretationen als Lucia nie wirklich hysterisch aus ihrer Opferrolle ausbrechen. Dennoch bewegend, wie die russische Sopranistin als quasi autistisches Wesen hin in ihre 20-minütige Wahnsinnsszene treibt und dort – wie von Donizetti gewünscht, begleitet von den psychedelischen Klängen einer Glasharmonika – Herz und Seele aufreißt. An die ganz Großen reicht Peretyatkos Lucia zwar nicht heran, aber dem rüpelhaften Buhrufer bei der Premiere möchte man dennoch Hausverbot geben.
Michael Tschida