Frau Lyniv, sind Sie eigentlich schon richtig angekommen in Graz?
OKSANA LYNIV: Ich probe seit Anfang September mit dem Orchester - für den schon erfolgten Auftritt im Wiener Musikverein und für das Eröffnungskonzert in der Oper. Aber ich war ja schon im vorigen November für eine „Traviata“ hier, und es war Sympathie auf den ersten Blick: die Architektur der Stadt, die Atmosphäre, die Mentalität der Leute und das Opernhaus und alle Mitarbeiter sowieso.
Und auf den zweiten Blick?
OKSANA LYNIV: Ich freue mich riesig, nun Teil der Kultur einer Stadt zu sein, die einen so guten Ruf hat. Attraktiv für mich ist auch die enge Verbindung zwischen Österreich und der Ukraine. Galizien war ja 200 Jahre lang Teil des Habsburgerreiches und ist heute noch „österreichisch“. Meine stärkste Motivation, Deutsch zu lernen, waren übrigens die Briefe von Mozart, meinem Liebling, die ich unbedingt im Original lesen wollte. Interessant ist, dass sich der galizische Dialekt heute noch zu 20 Prozent von der deutschen Sprache herleitet.
Sie haben sich ja bereits bei der styriarte mit Tschaikowskys „Nussknacker“ vorgestellt. Wird das Programm des Eröffnungskonzerts in der Oper auch so etwas wie Ihre „Visitenkarte“?
OKSANA LYNIV: Gar nicht. Ich suche die Projekte immer danach aus, was mich gerade anzieht, zu mir passt. Schade nur, dass man nicht jedes Mal fünf Symphonien aufführen kann (lacht). Schumanns „Zweite“ besticht mit anspruchsvoller Symphonik und tiefer Psychologie. Er hatte, als er sie zu schreiben begann, schwere Depressionen, aber er heilte sich mit ihr quasi selbst.
Wohl kein Wunder, dass er dafür C-Dur wählte, die hellste, strahlendste Tonart, oder?
OKSANA LYNIV: Ja, genau, und mit den Zitaten von Bach, Mozart oder Beethovens „Neunter“ und deren „Ode an die Freude“ wollte Schumann auch die Stärke des menschlichen Geistes zeigen und fand dadurch selbst wieder die Kraft aufzustehen, weiterzumachen.
Was ist Ihnen generell wichtig bei der Orchesterarbeit?
OKSANA LYNIV: Natürlich immer Artikulation, Phrasierung, Form, Klang ... Aber gerade mit Schumanns Symphonie kann ich exemplarisch auch dem nachgehen, was mir wesentlich ist: Was steht hinter dem Notentext? Was drückt die Musik aus? Was ist die Botschaft des Komponisten? Wir stehen da gemeinsam in einem Labor oder vor einem rohen Stein, aus dem eine Skulptur werden soll. Wenn wir sie lustvoll und richtig formen, gibt es im Idealfall Gänsehaut.
Liszts symphonische Dichtung „Mazeppa“ ist sozusagen ein Mitbringsel von zu Hause?
OKSANA LYNIV: Das monumentale Stück nach einem Gedicht von Lord Byron wollte ich schon immer machen. Iwan Masepa ist der ewige Held in der Ukraine. Als Kosak kämpfte er für die Heimat, für die Freiheit. Der Zar ließ nach Masepas Tod sogar sein Dorf niederbrennen und Tausende hinmetzeln. Für die Russen blieb er der größte Verräter.
Klingt nicht nur nach 17. Jahrhundert. Wie sehen Sie die derzeitige Lage in der Ukraine?
OKSANA LYNIV: Ich war gerade einen Monat in Lemberg. Im Westen des Landes spürt man vom Krieg fast nichts, außer durch Menschen, die dorthin geflüchtet sind. Ich besuchte auch ein Camp in den Karpaten, in dem Kinder betreut werden, deren Eltern in Kriegsgebieten geblieben, deren Väter verschollen sind. Denen geht es am schlimmsten, sie sind ängstlich bis aggressiv. Mit psychologischer Betreuung hilft man ihnen, mit ihren Schmerzen umzugehen und wieder normale soziale Kontakte knüpfen zu können.
Kein Wunder also, dass Sie im Vorjahr das Ukrainische Jugendorchester gründeten.
OKSANA LYNIV: Ja, da sind 100 junge Leute aus allen Regionen dabei, etliche, deren Schulen zerbombt wurden. Zuletzt spielte eine zwölfjährige Ausnahmepianistin mit, die auf der Krim ein schweres Trauma davontrug.
Mit dem einwöchigen Festival LvivMozArt, das auf Ihre Initiative hin Mitte August in Lemberg Premiere feierte, setzen Sie ja weitere Akzente der Hoffnung.
OKSANA LYNIV: Auch damit wollen wir Brücken bauen und natürlich neue Impulse für Klassik und Oper setzen. Ausgangspunkt war, dass über Franz Xaver Mozart, der lang in Lemberg lebte, in der Stadt wegen 75 Jahre Unterdrückung westlicher Kunst durch die Sowjets kaum etwas bekannt war. Über den jüngsten Sohn Mozarts, der selbst ein fantastischer Pianist, Komponist und Dirigent war, aber von der Genialität seines Vaters fast erdrückt wurde, gibt es enorm viel zu entdecken. Die nun einsetzenden Forschungen bringen wunderbare Überraschungen und Raritäten zutage. Und zudem gibt es die starke Verbindung nach Graz, wo Franz Xaver unter anderem erstmals seine Klaviervariationen aufführte. Josephine Baroni-Cavalcabò wurde seine Geliebte und lebte als Alleinerbin nach seinem Tod in Graz, ebenso deren Tochter Julie Weber von Webenau, Österreichs erste bedeutende Komponistin.
Was bringen Sie aus München mit, wo Sie an der Bayerischen Staatsoper vier Jahre lang Assistentin von Kirill Petrenko waren?
OKSANA LYNIV: Am Haus selbst lernte ich ein großes Repertoire kennen und mit einem enorm hohen Arbeitstempo umzugehen. Und von Petrenko konnte ich mir viel abschauen - von akribischer Probenarbeit bis hin zur imposanten Klangtransparenz, die ihm immer wieder gelingt. Ich hatte ja einen doppelten Vertrag, nicht nur für die Assistenzstelle, sondern auch für eigene Premieren, Wiederaufnahmen, symphonische Programme, für die Opernfestspiele et cetera. Das war alles in allem ein dichtes Informationspaket, das ich für mich nutzen konnte, aber ich wollte mich auch auf Eigenes konzentrieren. Also kam das Angebot aus Graz gerade zur richtigen Zeit. Und jetzt will ich voller Emotionen bei der Sache sein, denn der Chefposten ist viel mehr für mich als bloß eine Stelle.
Verraten Sie uns zum Schluss ein kleines Geheimnis, das man noch nicht über Sie weiß?
OKSANA LYNIV:(denkt lange nach) Ich habe keinen Führerschein. Auch deswegen, weil ich außerhalb der Arbeit sehr versunken bin in Gedanken, Ideen, Planungen. Wenn ich freie Zeit habe, will ich ganz bei mir und mit mir selbst sein, also wäre ich beim Fahren zu sehr abgelenkt. Ich kann mir schlecht Wege merken und habe mich ja schon zu Fuß oft verlaufen, sogar in München. Und mit der U-Bahn bin ich nicht nur einmal etliche Stationen zu weit gefahren (lacht).
Michael Tschida