Ey, du Opfer!“, würde man ihm heute wohl nachbrüllen. Ein Grübler, Zauderer, Außenseiter. Mutlos, langweilig, schwächlich. So einer ist Franz Woyzeck. Vom Hauptmann niedergemacht. Vom Arzt für perverse Experimente missbraucht. Und dann wird dem einfachen Soldaten auch noch das Gift der Eifersucht eingeträufelt, bis er endlich Schneid zeigt - mit dem Messer, am Hals seiner geliebten Marie ...
„Der Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt Einem, wann man hinunterschaut“, heißt es im Dramenfragment „Woyzeck“ aus dem Jahr 1837. Georg Büchner sah ganz tief hinunter, ins schwärzeste Schwarz der Verlorenen. Alban Berg faszinierte die Seelenschau des deutschen Dichters so sehr, dass er daraus zwischen 1915 und 1921 eine Oper in 15 Szenen schuf. Selbst wegen Asthmas nur als Ministeriumsschreiber im Kriegsdienst, nutzte der Wiener Komponist „Heimaturlaube“ auch in der Villa seiner Schwiegereltern im steirischen Trahütten, um an seinem Dreiakter „Wozzeck“ zu schreiben, dessen aufgewühltes Tonvokabular natürlich stark vom Moloch Krieg geprägt war.
Naheliegend also, dass William Kentridge Büchners Anklage des Unmenschlichen in den Ersten Weltkrieg transponiert. Was der südafrikanische Künstler schon mit Matthias Goerne und dem Pianisten (und jetzigen Intendanten) Markus Hinterhäuser) in Schuberts „Winterreise“ erfolgreich erprobte, wird im „Wozzeck“ bei den Salzburger Festspielen zum fantastischen Sinnesrausch.
Im Haus für Mozart projiziert der Großmeister des Kohlestifts seine Zeichnungen einzeln und als Videos auf eine kleine Leinwand und/oder auf das gesamte Bühnenbild, das Sabine Theunissen mit Stegen, Treppen, Sesseln, Kästen zu einem Barackenpferch, zum kalten Medizinlabor, zum überfüllten Wirtshaus, zum schaurigen Mordplatz am See macht.
Ein Zeppelin, eine abgestürzte Fokker, Hausruinen, Gefallene. Militärkapellen, Leuchtfeuer, Aufmarschpläne zum allerersten Giftgasangriff, im flandrischen Ypern ... Kentridges Zeichengewitter entladen sich zuckend und werfen das Geschehen wieder zurück in Düsternis und Gräuel, als hätten ihm Hieronymus Bosch, George Grosz und Alfred Kubin assistiert.
Durch dieses Albtraumland taumelt Matthias Goerne als seelenwunder Wozzeck mit seinem lyrischen Bariton, der noch etwas mehr Schärfe vertragen hätte. Ebendiese zeigt Gerhard Siegel als schriller Hauptmann, Jens Larsen gibt dem Doktor wie ein „Spiegelgrund“-Arzt harte Kontur. Mauro Peter als Kamerad Andres überzeugt ebenso wie John Daszak als geiler Tambourmajor, der Marie herumkriegt - die litauische Sopranistin Asmik Grigorian findet starken Ausdruck für das Arme-Leut'-Mädchen in ständiger Sorge um sein Kind - eine Puppe mit Gasmaskenaugen.
Ein hervorragender Einstand bei den Festspielen gelingt Vladimir Jurowski. Mit den wendigen Wiener Philharmonikern fächert der 45-jährige Moskauer die Klangsprache Bergs zwischen Dissonanzen und Lyrismen, zwischen bedrohlichem Schrei und sehnsüchtigem Klagen auf und sorgt so auch aus dem Graben für Gänsehaut.
„Hopp, hopp, hopp“, reitet das Kind/die Puppe am Ende einsam das Steckenpferd. Wohl dem Abgrund entgegen. Ein berückendes, bedrückendes Gesamtkunstwerk, dem ein paar Sekunden Stille noch besser getan hätten als die aufbrausenden Jubelrufe bei der Premiere.
Michael Tschida