Als eine Art Artist in Residence hält sich einer der Superstars der Kunstwelt, der Südafrikaner William Kentridge, seit drei Wochen in Salzburg auf. Der 62-Jährige sprach über seine große Ausstellung im Museum der Moderne Salzburg und über seine "Wozzeck"-Inszenierung für die Salzburger Festspiele, die am 8. August im Haus für Mozart Premiere feiern wird.
Mister Kentridge, wie ist es für Sie, mit vielen Werken aus vier Dekaden Ihres Schaffens wieder konfrontiert zu werden? Oder haben Sie diese ohnedies immer präsent, weil Sie - wie etwa bei der für die Wiener Festwochen 2014 erarbeiteten "Winterreise" - alte Arbeiten in neue integrieren oder weiterführen?
William Kentridge: Das stimmt, aber es ist doch etwas ganz anderes, Dinge, die im Studio gelagert sind, plötzlich im Museumsambiente zu sehen. Manchmal fühlt sich das gut an, manchmal aber auch nicht. Es gibt in der Ausstellung auch viele Arbeiten, die noch nie öffentlich gezeigt wurden. Und es gibt hier auch frühe Arbeiten, die ich schon fast vergessen hatte. Bei manchen denke ich mir: Gut, dass sie da sind, aber ich muss sie nicht unbedingt wiedersehen.
Es ist auffällig, wie häufig Sie mit Selbstporträts in Ihren Arbeiten vorkommen. Warum ist das Ihnen wichtig?
Teilweise hat das ganz praktische Gründe. In den Animationsfilmen habe ich die Figur eines Zeichners gebraucht. Wenn ich ein Model oder einen Schauspieler genommen hätte, hätte er stundenlang da sein müssen, und ich hätte außerdem präzise wissen müssen, was ich von ihm will. Wenn ich nur mit mir selbst arbeite, verschwende ich nur meine eigene Zeit. Dann gibt es noch dieses "Der Künstler in seinem Studio"-Thema, das sind Referenzen zu ähnlichen Filmen mit Bruce Naumann oder Jackson Pollock, oder eine Wiedergabe von Selbstgesprächen, von Dingen, die sich in meinem Kopf abspielen. Ich habe diese Art von Präsenz eigentlich nie beabsichtigt, aber es trifft sich mit einer heutigen Tendenz zu Künstlergesprächen. Da gibt es eine ganze Serie von Künstlerfilmen, die auch wieder zu einer Art seltsamen Selbstporträts werden.
Ein anderes wiederkehrendes Thema ist die Bewegung, das Gehen.
Das Gehen und der einzelne Schritt sind interessante Dinge, nicht nur in der Geschichte der Zeichnung. Zumal wir heute, im 21. Jahrhundert, plötzlich wieder eine Menge Menschen sehen, die sich tatsächlich zu Fuß fortbewegen und so massenhaft Grenzen überschreiten.
Hier in Salzburg müssen Sie auch gehen, zwischen Ihrem Atelier, dem Haus für Mozart und dem Museum am Mönchsberg.
Das ist nichts Unnatürliches. Viele Leute müssen beim Arbeiten gehen, andere arbeiten im Gehen. Die Site-specific-Arbeit am Mönchsberg, das Alban-Berg-Porträt auf den Stufen, müssen sie sich ergehen. Und natürlich ist es nicht schlecht, dass sie zwischen den zwei Ausstellungsschauplätzen gehen müssen. Das gibt ihnen eine Verschnaufpause.
Was ist die Grundbewegung von Wozzeck? Geht er im Kreis?
Nein. In unserer Produktion gibt es eine Art Andeutung des Ersten Weltkriegs. Man kann das schon bei Büchner vorbereitet finden, und natürlich war das präsent, als Berg seine Oper schrieb. Es gibt also Bilder einer Bewegung, die einen an das Vorwärtsschreiten im Krieg erinnern. Das wird der Pfad sein, den wir in unserer Produktion gehen werden. Es ist ein Setting mehr zum ruhelosen Gehen als zum Im-Sessel-Sitzen.
Eine Ihrer Installationen in der Ausstellung heißt "The Refusal of Time". Aber offenbar entkommen auch Sie der Zeit nicht.
"The Refusal of Time" ist natürlich ein Nonsensetitel, man kann die Zeit nicht aufhalten. Aber im Studio können Sie die Zeit kontrollieren: Sie können eine Musikaufnahme langsamer abspielen, einen Film rückwärtsspielen oder anhalten. Das kann zum Rohmaterial werden, mit dem wichtige Fragen gestellt werden können.
Sie haben Büchners "Woyzeck" schon einmal inszeniert. Hat Ihnen das geholfen, den zentralen Zugang zu Ihrer "Wozzeck"-Inszenierung zu finden?
Ich höre heute einzelne Passagen zweimal: einmal, wie der Sänger es singt, einmal, wie es ein Schauspieler spricht. Manchmal wünsche ich mir sehr, man könnte es in Intonation und Schnelligkeit wie im Theater machen. Wenn ich aber einen Sänger frage, ob er eine Stelle sehr langsam und leise singen kann, sagt er: Gerne, nur ist das Orchester in einem ganz anderen Rhythmus, und wenn ich leise singe, hört man nur noch das Orchester, denn da spielen gerade 60 Leute eine Passage, die mit "forte" in der Partitur markiert ist.
Was ist Ihr Zugang zu den Figuren? Sie haben gesagt: Psychologie ist es nicht.
Wenn man die Psychologie der Figuren analysieren würde, müsste man auch die Musik anders analysieren. Dazu bin ich nicht kompetent genug. Ich kann über verschiedene Energien sprechen und in welche Richtung sie gehen, eine Serie von spezifischen Impulsen und Gegenimpulsen, aus denen eine Figur entsteht. Wenn etwa der Tambourmajor "Ich bin ein Mann" sagt, ist das ein Unterschied, ob das Richtung Publikum geht, zu allen anderen auf der Bühne oder zu Wozzeck. Ich kann auch über die Art der Stille zwischen Marie und Wozzeck sprechen, oder darüber, über welche Energie sich Angst oder Ärger ausdrücken.
In Büchners "Woyzeck" gibt es diese berühmte, bedrückende Märchen der Großmutter, die Vision einer zerstörten, trostlosen Welt...
Ja, ich weiß, leider gibt's davon kaum etwas in der Oper.
Vermissen Sie es?
Ja, absolut. Es gibt davon nur die ersten paar Zeilen. Man müsste eine Entscheidung treffen: Stoppen wir die Musik und erzählen den Rest der Geschichte, oder lassen wir ein wenig Musik dazukomponieren und geben vor, es sei von Alban Berg. Für mich wäre das okay - aber für den Dirigenten und viele andere wohl nicht.
Ist es nicht unglaublich, wie heutig diese Endzeitvision wirkt, die Büchner in den 1830ern geschrieben hat?
Ja, das ist wirklich erstaunlich. Auch dieses Fragmentarische, Collage-artige würde man eher in den 1920ern erwarten als fast 100 Jahre vorher. Heute hat die Menschheit genau vor dem Angst, was Büchner damals beschrieben hat.
In Ihrer Arbeit zeigen Sie großes Interesse an Politik, an Revolution, am Zeitalter der Aufklärung. An welchem Punkt stehen wir heute?
Viele unserer Werte, die wir uns über die Zeiten erkämpft haben, drohen weggefegt zu werden, in Europa, in Nordamerika, in Afghanistan, Syrien, Afrika und anderswo. Alles, von dem wir dachten, dass es heutzutage außer Frage stehen würde - von der Unabhängigkeit der Justiz bis zur Gültigkeit von Gesetzen oder dem Recht auf einen fairen Prozess, all diese scheinbar universellen politischen Grundlagen. Nun stellt sich heraus, dass dies ein goldener, utopischer Moment des Denkens war.
Wolfgang Huber-Lang