Ich erlebe meine Nominierung als Geschenk“, freut sich die 62-jährige Marie Chouinard über die Einladung, die nächsten vier Jahre die Tanzbiennale in Venedig als Direktorin zu verantworten. Die Kanadierin provozierte einst als junge Solotänzerin, indem sie auf der Bühne masturbierte, urinierte oder sich selbst versteigerte. Inzwischen ist die Künstlerin und ihre Compagnie Marie Chouinard mit den global tourenden Choreografien voll sinnlicher Opulenz und virtuoser Tanztechnik im Mainstream der Hochkultur angekommen.
Nach der Intendanz von Virgilio Sieni, der unter anderem bei freiem Eintritt im öffentlichen Raum tanzen ließ, hält sich Chouinard wieder vermehrt indoor auf. Das ist bedauerlich, denn ihr Austausch favorisiert so das zahlende Publikum und lässt tanzferne Menschen weitgehend außen vor.
Im Gegensatz zur Ära Sieni wirken weniger italienische Kunstschaffende mit. Stattdessen widmet Chouinard mit den drei Choreografien „Chroma“, „Aurora“ und „Folk-s“ dem Shooting Star Alessandro Sciarroni quasi ein Festival im Festival. Insgesamt setzt Chouinard auf bestehende Arbeiten, die bereits anderswo für Furore sorgten, etwa „So Blue“ von Louise Lecavalier, „Self Unfinished“ von Xavier Le Roy oder „Gustavia“ von Mathilde Monnier und La Ribot. Die Marie Chouinard Company selbst erforscht in „Soft virtuosity, still humid, on the edge“ bizarre Körperbilder in verschiedenen Tempi, von extremer Hektik bis zur radikalen Langsamkeit.
Neu installiert hat Chouinard eine Filmreihe am Nachmittag. Ferner erweitert sie das Biennale College, welches sich um den professionellen tänzerischen Nachwuchs kümmert, um eine Schiene für Choreografie.
Die Programmierung ist laut Chouinard rein intuitiver Natur. Sie lud ein, was ihr gefällt. Diese kuratorische Praxis irritiert. Üblicherweise argumentiert man seine Entscheidungen, stellt sie in einen gesellschaftlichen Kontext und sich selbst einem inhaltlichen Diskurs.
Ein Großteil von Chouinards intuitiv gewählter Stücke dürfte jedoch breite Zustimmung finden, da sie in der Tanzwelt ohnehin unumstritten sind, etwa das Stück „Dance“ von Lucinda Childs, welches die Biennale eröffnet. Childs wird unmittelbar vor Vorstellungsbeginn mit dem Goldenen Löwen der Biennale ausgezeichnet. In „Dance“, einem Klassiker des 20. Jahrhunderts, versetzt die 76-jährige Pionierin des postmodernen Tanzes das Publikum mit einer mathematischen Choreografie aus unendlichen Abwandlungen von Schrittkombinationen zur minimalistischen Musik von Philipp Glas und den Visuals von Sol LeWitt in Trance.
Ingrid Türk-Chlapek