Da stirbt er also wieder. Der arme reiche Mann aus Salzburg, in dessen Wesen wir uns bußfertig erkennen sollen, um bessere Menschen zu werden. Seit 90 Jahren garniert Hugo von Hofmannsthals gereimtes Läuterungsdrama die Salzburger Festspiele. Heuer mit neuem "Leading Team": Nicholas Ofczarek ist der neue Jedermann und bisher der 20. Darsteller dieser Rolle; Birgit Minichmayr die Buhlschaft Nummer 30. Unter ständiger Androhung himmlischen Ungemachs ging gestern Abend die Premiere vonstatten. Wie immer war sie seit Monaten ausverkauft. Wie fast immer sind es auch alle weiteren Aufführungen. Warum die Festspiele diesen Goldesel nicht öfter über den Domplatz traben lassen, bleibt ihr Geheimnis.
Nicholas Ofczarek passt gut in diese Rolle: Mit 39 deutlich jünger als sein übermächtiger Vorgänger Peter Simonischek, aber im gleichen Alter wie Walter Reyer und Klaus Maria Brandauer bei ihrem Antritt, stattet er seinen Jedermann mit juvenilem Überschwang, aber auch brutalem Ungestüm aus. Sein Umgang mit dem Schuldknecht erinnert mehr an ein CIA-Verhör als an ein frommes Weihespiel. Und in den leiseren Passagen erinnert er an einen dieser Bangster von der Wallstreet. Später wird er einen jungen, wütenden Tod sterben.
Neue Buhlschaft
Hervorragend passt da die neue Buhlschaft dazu: Birgit Minichmayr spielt eine Frau, die sich ihres Wertes überaus bewusst ist. Statt wie ihre Vorgängerinnen von der Seite kommend mit erhitztem Gesicht in die Arme ihres Liebhabers zu fliegen, stolziert sie in einem Flittergewitter lasziv herbei. Sie gestattet Jedermann vorerst nur einen Handkuss, ehe sie mit ihm in einer Mischung aus Breakdance und Quadrille ein erstes Balzritual andeutet. Um dann etwas überraschend zu rufen: "Wir wollen sitzen bis Mitternacht und saufen, bis der Hals uns kracht!" Kurz darauf nimmt sie sehr kühl Abschied von ihrem todgeweihten Jedermann.
Regisseur Christian Stückl hat seine großartige Inszenierung von 2002 heuer bereits zum zweiten Mal überarbeitet. Und man gewinnt den Eindruck, dass ihn die bisherige Opulenz zu langweilen begann. Sein Jedermann 2010 ist ein Totentanz. Das abendliche Fest will nicht in Schwung kommen, die dominant schwarz-weißen Kostüme der Gäste wären auch für Bestattungen geeignet. Und ihrer Kleidung nach könnte die Dienerschaft auch in einem Ordenshospiz arbeiten. Trotz Slapstick-Elementen und Comedia dell Arte-Zitaten hängt die Trauer über Allem.
Stückl hat viel barockes Fett wegoperiert. Und damit ein Problem geschaffen: Wenn man einem literarisch ärmlichen Text sein dramaturgisches Gepränge nimmt, bleibt ein eher drahtiges Theaterskelett übrig. Das kann für die Schauspieler gut sein, wenn sie so eindrucksvoll sind wie Ofczarek, Minichmayr oder die Stimme des Todes Ben Becker. Alle anderen Darsteller leiden darunter, weil sie in ihren teils winzigen Parts ein wenig kümmerlich wirken. Dennoch setzte es kräftigen Applaus des Premierenpublikums. Unter den Gästen: Bundespräsident Heinz Fischer, Bundeskanzler Werner Faymann und Niki Lauda.
Und auch die Wolken haben nicht geweint.
FRIDO HÜTTER