Die Trophäe für den Großen Schaupieloreis der Diagonale 2022: eine Maske aus Metalldraht, gestaltet von Constantin Luser. In der Grazer List-Halle überreichte er das famose Objekt am Dienstag Abend an Schauspiel-Legende Branko Samarovski – der Burgschauspieler wurde für seine mannigfachen Beiträge und Verdienste um die österreichische Filmkultur ausgezeichnet. Der Preisträger verriet, er habe die Ehrung fast verweigert: "Ich komme mir vor wie ein Schauspieler aus der dritten Reihe." Und erinnerte angesichts des Ukraine-Kriegs an seine eigene Flucht-Geschichte, die ihn nach dem Zweiten Weltkrieg aus Jugoslawien nach Mondsee führte: "Unvorstellbar, dass ich jemals diesen Preis empfangen würde." Tosender Applaus.
Ansonsten schloss die erste große Diagonale-Eröffnungsfeier seit 2019 an Glanz und Glorie präpandemischer Zeiten an. Generalversammlung von Österreichs Filmszene: Ulrich Seidl und Veronika Franz ließen sich die Feier ebenso wenig entgehen wie Schauspielprominenz á la Inge Maux, Kristina Sprenger, Pia Hierzegger, Gabriela Hiti, Luna Jordan, August Schmölzer. Wiens Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler kam ebenso wie ihre Nachfolgerin als herbst-Intendantin, Ekaterina Degot, ziB-Moderatorin Nadja Bernhard, Hausherrin Kathryn List und Hallen-Chef Erwin Hauser, Joanneum-Chef Wolfgang Muchitsch, Kunstuni-Rektor Georg Schulz und Politprominenz wie Landeshauptmann Hermann Schützenhöfer, Bürgermeisterin Elke Kahr und ihr Vorvorgänger Alfred Stingl, Kulturstaatssekretärin Andrea Mayer, Kulturlandesrat Christopher Drexler und Kulturstadtrat Günter Riegler.
Mit einer Warnung vor der Vereinnahmung der Künste durch die Politik und einem flammenden Aufruf zu mehr geistiger Beweglichkeit angesichts von „verkürzter Bekenntniskultur“, Propagandismus und Boykotten gegen russische Künstlerinnen und Künstler eröffneten die Intendanten Sebastian Höglinger und Peter Schernhuber die 25. Diagonale in Graz. Und plädierten für eine „Globalität, die der Provinzialisierung von rechts ebenso eine Absage erteilt wie der Kulturalisierung von links“ - anbei der komplette Text.
Die Rede der Intendanten im Wortlaut
Erlauben Sie uns, zum Auftakt ein Filmbild zu bemühen: Eine Kamera torkelt über eine Treppe. Gleichgewicht und Orientierung scheinen außer Kraft. Offensichtlich ist hier jemand schon etwas après – wie man auf Ischgl-Deutsch sagt. Drüber. Kaputt. Eine Filmszene als vermeintlich b’soffene G’schicht. Der beschriebene Taumel stammt aus der Filmminiatur Odessa von Catrin Bolt und wurde 2011 auf der berühmten „Potemkinschen Treppe“ in der titelgebenden ukrainischen Hafenstadt aufgenommen.
Christoph Huber vom Österreichischen Filmmuseum hat uns den Film für das heurige historische Special mit dem glückspendenden Titel RAUSCH vorgeschlagen. Wir waren angetan. Odessa schien ein passender Kommentar in einem Filmprogramm, das wir auch als Reaktion auf die Zumutungen der Pandemie und auf jene Einschränkungen, die mit den Maßnahmen ihrer Eindämmung einhergehen, verstanden wissen wollten. Sehnsüchtig assoziierten wir mit dem trunkenen Torkeln die Möglichkeit, frei zu reisen, frei zu feiern. Denn immer, immer wieder geht die Sonne auf …
Cineast*innen werden bei Odessa unweigerlich an Sergei Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin aus dem Jahr 1925 denken. Im Anschluss an das Screening ließe sich unter Filmaficionados und -aficionadas triumphierend über das eigene filmhistorische Wissen austauschen. Futter für das eingeübte Ritual jedes Filmfestivals, so unser schamloses Kalkül. Aber: Der Blick auf die Kinoleinwand passiert auch immer aus einer Gegenwart heraus. Sollten Sie das Screening von Odessa am Festivalsamstag im Kurzfilmprogramm „Prost!“ besuchen, werden Ihnen unweigerlich Kriegsbilder aus der Ukraine in den Sinn kommen.
Wohl an keiner anderen Stelle im Festival haben sich Film und Politik so drastisch angenähert, wird ein historisches Programm deutlicher von der Gegenwart eingeholt und aktualisiert. Plötzlich schlägt der Rausch durch den Blick der Gegenwart in Barbarei um – die vermeintliche Unschuld des kleinen Schwips scheint verloren. Odessa ist per se kein politischer Film, und doch lässt er sich nicht länger unpolitisch denken. Oder wie es Ekaterina Degot vor zwei Wochen in einem Essay formulierte: „Im Bombenhagel ist jede Kunst politisch.“
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Gäste! Die 25. Diagonale in Graz findet einmal mehr in Krisenzeiten statt! In Zeiten einer anhaltenden Pandemie, eines Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine und virulenter ökologischer Herausforderungen. Krisenzeiten sind Zeiten, in denen Kunst, Kultur und Politik zunehmend in ein Spannungsverhältnis geraten – und nicht selten einem Missverständnis aufsitzen! Zwischen der gerade jetzt wieder lauter erhobenen Aufforderung, Kunst müsse politisch sein, und der Feststellung, dass Kunst immer politisch ist, besteht ein grundlegender Unterschied. Es ist nicht dasselbe, ob sich die politischen und gesellschaftlichen Umstände in einen Film einschreiben und darin bemerkbar machen oder ob ein Film bereits auf eine bestimmte politische Message hin formuliert ist.
Lange Zeit nannten wir „Messagekunst“ Propaganda. Gerade in sogenannten westlichen Kontexten scheint es uns immer schwerer zu fallen, Propaganda als solche zu benennen. Zumeist dann, wenn die Aussagen politischer Common Sense sind und den Zeitgeist bedienen. Solange das Anliegen passt, nehmen wir gerne in Kauf, dass Filme und Kunst weniger ihrer eigenen Autonomie, sondern übergeordneten propagandistischen Zwecken unterliegen. Zum Reigen der wichtigen, mit dementsprechendem Moralismus vorgetragenen Anliegen hat sich im Kunst- und Kulturbereich in den letzten Wochen die Meinung gesellt, Solidaritätskundgebungen mit Boykottaufrufen zu unterfüttern: Filmfestivals nehmen russische Filme aus dem Programm. Künstler*innen werden ausgeladen und aus Filmakademien ausgeschlossen. Der unsägliche Zeitgeist trifft den Krieg!
Es ist eine Tatsache, dass Krieg auch mit den Mitteln der Kulturindustrie geführt wird. Verwechseln wir dies jedoch nicht mit verkürzter Bekenntniskultur. Setzen wir Kunst und Kultur nicht mit Politik gleich – zumindest solange uns etwas an einer freien Gesellschaft gelegen ist! Die Diagonale war in ihren ersten 25 Grazer Jahren stets ein Ort der Kontroverse und der Widersprüche. Auch wir durften das Festival schon früh als vielstimmig und politisch neugierig kennenlernen, obwohl es freilich nicht gänzlich über Moden, Trends und den jeweiligen Zeitgeist erhaben war. Auch im wortwörtlichen Sinn, wie Archivfotos belegen: Schulterpolster, Taschen aus LKW-Planen und Wortwitz-Leiberl pflastern seinen Weg.
Wer bei der Diagonale den Weg ins Kino sucht, tut dies zumeist, um auf andere Gedanken zu kommen. Andere Gedanken im Sinne von Zerstreuung und andere Gedanken im Sinne von Erkenntnis. In beiden Fällen geht es darum, die eigene Sicht der Dinge zumindest temporär hinter sich zu lassen. Oder um es mit der großartigen Fran Lebowitz zu formulieren, die vor wenigen Wochen im Wiener Gartenbaukino mit rhetorischer Vehemenz beglückte: Beim Gang ins Kino oder ins Theater sollte es nicht darum gehen, immer nur auf Spiegelbilder zu treffen: A book is not supposed to be a mirror. It’s supposed to be a door.
Gehen wir also mit dem Kino durch diese Tür, werden wir uns bewusst, dass unsere eigene Sicht relativ und beweglich ist. Gestatten Sie uns dazu ein Beispiel: Immer wieder war zuletzt zu lesen, dass jüngere Generationen in Österreich bisher völlig selbstverständlich ohne Krieg und im Wohlstand groß geworden seien. Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Gäste, dem wollen wir widersprechen! Unsere Schulkolleginnen und Schulkollegen mussten vor Krieg flüchten und waren eben deshalb unsere Schulkolleg*innen. Die Biografien unserer Arbeitskolleginnen und Arbeitskollegen erzählen von Lebensphasen, bei deren Beschreibung der Begriff Wohlstand nur noch als Zynismus gewertet werden kann. Und die Biografien unserer Familienmitglieder sind mitunter so unterschiedlich wie die Menschen selbst. Zugleich sehnen wir uns wohl alle nach einem schönen Leben, in dem jede und jeder nach ihrem und seinem individuellen, privaten Glück streben kann!
Das Kino ist voll von solchen Sehnsuchts- und Gesellschaftserkundungen, voll von der Suche nach den kleinen Paradiesen. Sie werden es schon in Kürze hier auf dieser Leinwand erleben! Kurdwin Ayubs Eröffnungsfilm SONNE gibt Hinweise darauf, dass unsere Gegenwart nunmehr immer zugleich eine globale und eine regionale Sicht der Dinge erfordert. SONNE unterstreicht, dass man kulturelle Identitäten nicht überbewerten sollte, weil sie sich jederzeit ändern können und die Sehnsüchte dahinter nach einem schönen und glücklichen Leben universell sind. SONNE erzählt von der Globalität, die der Provinzialisierung von rechts ebenso eine Absage erteilt wie der Kulturalisierung von links. Und SONNE ist ein sehr musikalischer, sehr gegenwärtiger – einfach sehr großartiger Film. Wie so viele Arbeiten in diesem Jahrgang, der im Wettbewerb 113 Filme aller Gattungen und Längen zählt.
Über Kurdistan führt das Filmprogramm der Diagonale’22 nach Rimini, wo morgen an dieser Stelle Richie Bravo in Ulrich Seidls neuem Spielfilm singen wird. Vom Alpenraum führen die Filme in die Straßen von New York, von unwirtlichen Berghöhen in die Arbeiterkammer Wien. (Anti-)Heimatfilme treffen auf Direct Cinema. Aussteiger*innen- und Nomad*innentum auf Liebe zu dritt. Nicht zuletzt gewährt das Kino Einblicke in Welten, die in Vergänglichkeit begriffen sind – wie sie sie in den Filmen und Fotografien von Tizza Covi und Rainer Frimmel erleben dürfen –, und Welten, die vergangen sind, wie das Studiosystem am Flugfeld Thalerhof, das unter dem Label „Thaliwood“ großes Kriminal- und Unterhaltungskino made in Graz verantwortete.
In einer Welt, in der der Irak für Wiener Jugendliche in der Nachbarschaft liegt, während andere die Ukraine gefühlt auf einem anderen Kontinent verorten, steht die eingeübte Weltordnung grundlegend zur Disposition. Es wird hinkünftig nicht mehr genügen, Gebäude in Farben anzustrahlen. Große Flächen anstrahlen kann das Kino ohnedies besser. Dafür könnte sich die Politik wieder der Politik zuwenden und die Kunst der Kunst. Auch wenn das Verhältnis stets ein komplexes ist. Wie auf der Treppe runter zum Hafen in Odessa. Solidarität mit der Ukraine, ihren Bürgerinnen und Bürgern! Solidarität mit der russischen Opposition! Solidarität mit der Sehnsucht nach einem schönem Leben und dem privaten Glück! Von Odessa bis Moskau, von Kyjiw bis Graz!
Mit hoffnungsfrohem Blick auf morgen schließen wir mit den umarmenden Worten des großen Richie Bravo: „Wenn du glaubst, es ist alles zu spät. Wenn du meinst, dass dich niemand versteht. Wenn die Nacht dich gefangen hält, bin ich bei dir. Wenn du glaubst, jeder Traum sei geträumt und alle Straßen, die führen ins Nichts. Wenn dein Herz nicht mehr weiß, dass es schlägt, bin ich bei dir. Amore mio, amore mio, amore, amor.“ Wir wünschen Ihnen eine erhellende 25. Diagonale in Graz. Herzlich willkommen!