Herr Seidl, „Rimini“ ist Ihr zugänglichster und versöhnlichster Film. Sind Sie milder geworden?
ULRICH SEIDL: Ich hoffe nicht. Wenn ich „Rimini“ mit „Paradies: Liebe“ vergleiche, sehe ich keinen Unterschied im Zugang zu meinen Protagonisten. Ich mag meine Figuren.

Michael Thomas als abgetakelter Schlagerstar, der sich im Winter als Sänger und Gigolo in Rimini über Wasser hält, ist ein Glücksgriff. Stand er am Anfang?
Er war der Ursprung für die Figur. Das liegt lang zurück: Während der Vorbereitungen zu „Import/Export“ stand er plötzlich im Büro und forderte mehr oder weniger, gecastet zu werden. Ich fand ihn sehr gut, hatte aber keine Rolle. Im Zuge der langen Vorbereitungszeit zum damaligen Film wurde aus der Rolle eines Bruders jene eines Stiefvaters – für Michael Thomas.

Haben Sie ihn auch als Sänger erlebt?
In der Ukraine, in Ushgorod, schnappte er sich eines Abends in einem Restaurant das Mikrofon und begann zu singen. Ich war gebannt, wie er alle begeisterte. So ist die Figur des Richie Bravo entstanden – für einen anderen Film. Dieser wurde nicht gedreht, Jahre später fiel mir die Geschichte wieder ein. Richie ist kein strahlender Held, sondern jeden Tag dabei zu scheitern. Trotz seiner Versuche, das Leben wieder in den Griff zu bekommen. Er scheitert – und das interessiert mich.

Ihre Filme sind stets auch eine Typen-Parade: Wann erwecken Schauspielerinnen und Schauspieler Ihr Interesse?
Michael Thomas war ein guter Typ: sehr individuell, interessant und vor der Kamera authentisch, echt. Die Essenz meines Filmemachens sind improvisierte Szenen. Das müssen sie können, denn sie bekommen weder Text noch Dialoge. Insofern ist meine Truppe eine kleine, die ab und zu erweitert wird.

Wofür steht der Schlager-Kosmos für Sie?
Schlagermusik ruft in den Menschen, die das gerne hören, Emotionen hervor, in die sie sich hineinleben können. Ein wenig Glück für ein paar Stunden. Sehnsucht, unerfüllte Liebe, Schmerz, Sentimentalität einer vergangenen Liebe: Es dreht sich oft um die Hoffnung, dass der oder die eines Tages wiederkommen wird. Das ist die Funktion des Schlagers. Als Figur meint Richie Bravo die Schlager, die er singt, ehrlich. Er ist kein Zyniker, der nur des Geldes wegen auftritt.

Der Film spielt im Massentourismus-Ort an der Adria – aber im Winter in der Off-Season, wenn alles zu hat. Fans werden in Bussen dorthin gekarrt, um einen abgetakelten Star zu sehen. Ist das Setting für Sie trostlos oder tröstlich?
Für mich ist das gar nicht trostlos. Die meisten Menschen mögen das als Tristesse sehen. Die Frage ist: Was ist das Gegenteil? Überfüllte Strände, Sonne, blauer Himmel, das Meer und nackte Menschen, die zu Tausenden herumliegen? Ist das dann ein Sehnsuchtsort? Ich stelle das in Frage und habe mich für ein anderes Setting entschieden: den Winter, die Menschenleere. Eine Stimmung, die einen zum Nachdenken bringt.


Apropos Sehnsuchtsort: Daneben zeigen Sie Bilder von Menschen aus Afrika, die in Italien gestrandet sind.
Ich habe ihnen, den so genannten Flüchtlingen, bewusst keine Stimme gegeben. Um zu sagen: Das ist ein Bild unserer Wirklichkeit, ein Bild unseres heutigen Europas.


Aktuell herrscht in Europa Krieg. Sie kennen die Ukraine von Recherchen und Dreharbeiten zu „Import/Export“ gut.
Es beschäftigt mich Tag und Nacht. Für mich ist jeder Film wie eine Reise. Ich begebe mich in eine fremde Welt und habe mir vor dem Dreh mehr oder weniger das ganze Land angeschaut: nicht nur von außen, sondern auch von innen. Ich hatte die Möglichkeit, in die Wohnungen der Menschen zu gehen, zu sehen, wie sie wohnen und arbeiten.

Bei aller Versöhnlichkeit enthält „Rimini“ dennoch ein Best-of-Seidl. Dazu viele Sex-Szenen, die anders aussehen, als wir sie aus dem Hollywood-Kino kennen. Arbeiten Sie eigentlich mit Intim-Coaches?
Das will ich nicht kommentieren. Es gibt eine sehr lange Vorbereitungszeit mit meinen Schauspielenden wie hier mit Inge Maux, Claudia Martini und Michael Thomas. Alle wissen: Sie ziehen sich nicht aus, weil der Film das braucht, sondern weil sie davon überzeugt sind. So sieht Sexualität hauptsächlich aus. Wie Hollywood Sex zeigt, so sieht das nur bei ganz wenigen Menschen aus. Das betrifft auch die Körper.

Hat Sie das Filmemachen verändert?
Es ist ein privilegierter Beruf, weil ich sehr viele Möglichkeiten habe, sehr nahe an die Menschen zu kommen. Das ist, was mich interessiert. Es ist mit Erkenntnissen verbunden, obwohl einen vieles davon deprimiert. Man schaut in die Abgründe der Menschen, wissend, dass man selber welche hat.