Mit einem Strauß rosa Nelken in der Hand erwartet Elisabeth Murer ihren Mann vor dem Straflandesgericht in Graz. Der ist an diesem 19. Juni 1963 von den Geschworenen nach dreistündiger Beratung vom Vorwurf des 17-fachen Mordes im seinerzeitigen Ghetto von Wilna freigesprochen worden. Was die Zuhörer im Gerichtssaal mit tosendem Applaus quittierten. Neben der Ehefrau erwartet den Freigesprochenen, der umgehend aus der Untersuchungshaft entlassen wird, noch eine Schar Gratulanten. Die Blumenläden in der Umgebung des Gerichts waren an diesem Tag ausverkauft, berichtet Johannes Sachslehner in seinem Buch „Rosen für den Mörder“.
Der Fall des Franz Murer steht für das Versagen des Rechtsstaates bei der strafrechtlichen Verfolgung eines Mannes, dem vielfache Morde an Juden angelastet werden. Dem ehemaligen Knecht in Diensten des Schwarzenberg'schen Gutes in der Steiermark ermöglichte das Nazi-Regime, zum Herrenmenschen aufzusteigen. In den besetzten Ostgebieten, verwaltet von einem eigens gebildeten Ministerium unter dem braunen Ideologen Alfred Rosenberg, findet Franz Murer seine neue Aufgabe. Als stellvertretender Gebietskommissar in Wilna, Hauptstadt von Litauen, zuständig für Juden, die man in ein Ghetto pferchte, amtiert er ab August 1941.
Das System Murer
Über Murer häufen sich die Berichte. Wie er den Juden zuerst ihr Hab und Gut abpresst und sie dann quält. Er muss ein Sadist sein, findet offenbar Vergnügen daran, ihm ausgelieferte Menschen erfindungsreich zu drangsalieren. Jüdische Frauen, denen er befiehlt, unter Tischen durchzukriechen, bis sie nicht mehr können. Er lässt ihnen kaltes Wasser in den Ausschnitt schütten und erfreut sich daran. Oder die ihm Ausgelieferten müssen sich auf den Boden werfen und wie Hunde bellen und japsen.
Und immer wieder berichten Augenzeugen, wie Murer selbst tötet. Menschen als seine Zielscheiben. Wie er ein Mädchen, das seine Eltern retten will, an die Wand drückt und seine Pistole zieht. Das Mädchen wird tot in seinem Blut liegend gesehen. Ein Augenzeuge berichtet, wie sein Sohn am Tor zum Ghetto mit Fleisch und Butter erwischt wurde. Murer war zur Stelle. „Murer hat zu meinem Sohn gesagt, er solle sich niederknien und die Hände in die Höhe strecken. Mein Sohn hat es getan. Murer hat den Revolver gezogen und ans Genick gehalten. Er hat dann geschossen und mein Sohn war tot“, berichtet Leon Schmigel Jahre später als Zeuge in Graz.
Ein Wehrmachtsoffizier erinnert sich, Murer habe angewiesen, Juden zu erschießen, wenn sie nicht mehr arbeiten können. Für Juden habe er keine Kartoffeln. Von den 75.000 Juden Wilnas überlebten nur wenige, hält Historiker Sachslehner fest. Vor Gericht behauptet Murer später, er habe mit all dem nichts zu tun gehabt.
Nach dem Krieg lebt Murer ungeschoren daheim in Gaishorn. Bis ihn „Nazijäger“ Simon Wiesenthal entdeckt. Der Mann, der den Beinamen „Schlächter von Wilna“ erhielt, wird von einem Sowjetgericht 1948 zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt, aber 1955 bringt ihn der Staatsvertrag wieder heim nach Gaishorn, er wird ein angesehener Landwirt und Bauernbundfunktionär. Bis Wiesenthal durch Zufall erfährt, dass Murer frei ist, und die österreichische Justiz drängt, tätig zu werden. Aussagen über neue Verbrechen liegen vor.
Trotz massiver Interventionen von ÖVP-Funktionären, auch der spätere Unterrichtsminister Theodor Piffl-Percevic zeigte auf (in seinen Memoiren „Zuspruch und Widerspruch“ erwähnt er dann kein Wort davon), erhebt die Staatsanwaltschaft Anklage wegen Mordes in 17 Fällen. Murer behauptet, er sei bloß Opfer einer Verwechslung.
Als Zeugen aufgerufene Überlebende des Ghettos von Wilna werden „mit Detailfragen traktiert“, formulierte es die Rechtswissenschaftlerin Gabriele Pöschl, die die Protokolle des Strafverfahrens untersuchte, später. Man fragt beispielsweise die Zeugen 20 Jahre nach dem Horror von Wilna, welche Farbe denn die Uniform hatte, die Murer damals trug. Der Richter weist Zeugen, die von den Zuhörern mit Hohn bedacht werden, zurecht.
Der Verteidiger legt in seinem Plädoyer ein Schäufelchen nach: „Diesen Zeugen stand die Lüge in das Gesicht geschrieben.“ Die Geschworenen sprechen Murer frei, in 15 der angeklagten Mordfälle einstimmig, in zwei weiteren erfolgt der Freispruch durch Stimmengleichheit. Ein Urteil, das international empört und auch in Österreich Proteste auslöst. In einem anonymen Schreiben nach dem Prozess wird behauptet, der vorsitzende Richter des Schwurgerichtshofes sei seinerzeit selbst als engagierter Nazi in Erscheinung getreten.