"Theater, das nicht berührt, interessiert mich nicht": Das war eine wichtige Maxime des Theatermachers, Dichters, Professors und Regisseurs Ernst M. Binder. Sein unbändiges und unbequemes Interesse galt stets dem Menschen und dessen Ausgesetzt-Sein in der Welt. Wie der Tod soll die Kunst „den Menschen auf sich selbst zurück werfen", sagte er einmal.
Seit 1971 prägte er die heimische Kulturszene maßgeblich mit: als Autor, Musiker, Regisseur, als kritische Instanz und als Förderer und Mentor vieler Talente. Von 1987 bis 2003 leitete er das forum stadtpark theater, seit 2003 ist er künstlerischer Leiter von dramagraz. Der 1953 in Raabau (Feldbach) Geborene war auf den großen Häusern des deutschsprachigen Theaters daheim: er inszenierte in Schwerin, Berlin, Hamburg, Ljubljana; hievte vier bis sechs Stücke pro Jahr auf die Bühne.
Ernst M. Binder suchte stets das Wagnis, forderte sein Publikum heraus. Leichte, unterhaltsame Kost waren Theaterabende unter ihm eigentlich nie. In seiner Heimatstätte in Graz-Gries hat er sich vor wenigen Jahren ein kleines, feines Theater eingerichtet: Eines, bei dem das Publikum den Schauspielern "ins G'sicht schauen kann, wo keine großen Gesten notwendig sind."
Von Schleef bis Jelinek
In Graz zog Binder grandiose Querköpfe an - wie Wolfgang Bauer. Mehr als 70 Ur- und Erstaufführungen von Autoren wie Einar Schleef, Peter Handke, R.P. Gruber, Werner Schwab, Herbert Achternbusch, Bodo Hell und Elfriede Jelinek inszenierte der, der es mit der Sprache genau nahm. "Das Schweigen ist die einzig Sprach, von der wir g’sprochen werden können. Die uns erzählen kann", hieß es etwa in seinem Stück Kukurz von 2010.
Seine Theaterabende waren zu vielen Festivals geladen - unter anderem zu den Mülheimer Theatertagen, dem Heidelberger Stückemarkt, IMPULSE, Ruhrfestspiele Recklinghausen u.a.), dazu waren mehrere Stücke zum Berliner Theatertreffen geladen.
Seine Biografie war wechselhaft - er war Protestsänger, der junge, hochambitionierte Literat, der den Begriff Jungdichter übersprang. Er war langjähriger ORF-Feuilletonredakteur, in den 1970ern heroinabhängig, womit er stets offen umgegangen ist, Olivenbauer, DJ, manuskripte-Autor, leidenschaftlicher Raucher und seit 2015 Senior Lecturer an der Kunstuniversität Graz. 2008 wurde er zum Professor ernannt.
Seine vielen Leben
Nicht nur einmal in seinem Leben sprang er dem Tod von der Schaufel. Zuletzt widmete er sich verstärkt der zeitgenössischen Oper und der Prosa. Im August wäre er mit der Uraufführung von "The Lighthouse" von Zesses Seglias zu den Bregenzer Festspielen geladen gewesen. Heute Abend seine insgesamt 99. Inszenierung von "Hänsel und Gretel" im Grazer Mumuth auf dem Programm.
Die Premiere findet statt. "Die Arbeit an der Kunstuniversität, wo er auch das Projekt 'Opern der Zukunft“' vorbereitete, war Ernst M. Binder wichtig – wie auch die Inszenierung selbst, mit der er eine deutliche gesellschaftspolitische Botschaft vermittelt. Wir hoffen, in seinem Sinne zu handeln", heißt es in einer Aussendung der KUG.
Künstlerisches Vermächtnis
„Angesichts der Flüchtlingsströme und der zunehmenden Radikalisierung und geistigen und moralischen Verwahrlosung eines großen Teils der Bevölkerung kann die Kunst nicht so tun, als ob sie das alles nichts angeht. Immer auch ist der Künstler Anwalt und Fürsprecher des Menschseins", schrieb Binder vor einem Jahr für die Zeitschrift "Grazkunst". Die Botschaft der Inszenierung unterstreiche seine Worte. Binder zeigt Hänsel und Gretel als Flüchtlingskinder - als Schutzsuchende, die mit den Verheißungen westlichen Wohlstandes konfrontiert werden. Sie ist Teil seines künstlerischen Vermächtnisses.
Die Beziehung zum Tod
"Die Auseinandersetzung mit dem Tod ist immer eine Auseinandersetzung mit meinem Leben und den Fragen: Wie lebe ich? Was tue ich? Reicht mir das?", erzählte er in einem Interview.
Freitagnacht ist Binder plötzlich und unerwartet von uns gegangen. Mit ihm verliert die Steiermark einen einzigartigen und kompromisslosen Künstler und Menschen. Einer, der schmerzlich vermisst werden wird.